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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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erzählen.
    »Alles klar«, versprach er. »Ich sag’s nicht weiter.«
    Natürlich konnte er den Mund nicht halten und erzählte allen möglichen Leuten, dass ich Kondome gewollt hätte. Schließlich erfuhr es auch Izumi von einer Freundin. Sie forderte mich auf, nach dem Unterricht mit ihr auf das Dach der Schule zu kommen.
    »Stimmt das, Hajime, dass Nishida dir Kondome besorgen musste?«, fragte sie. Sie sprach das Wort »Kondome« so angeekelt aus, dass es nach einem unmoralischen und hochansteckenden Bakterium klang.
    »Also, ähem, ja«, sagte ich. Ich rang nach einer passenden Erklärung, fand aber keine. »Das hat keine tiefere Bedeutung. Ich habe mir schon länger gedacht, es wäre vielleicht besser, welche zu haben.«
    »Hast du dir die wegen mir besorgt?«
    »Nein, nein, nicht speziell«, sagte ich. »Es hat mich nur interessiert, wie so was aussieht. Aber wenn dich das stört, tut es mir leid. Ich kann sie zurückgeben oder wegwerfen.«
    Wir saßen auf einer kleinen Steinbank in einer Ecke des Flachdachs. Es sah nach Regen aus, und so waren wir allein. Es war ganz still. Ich hatte noch nie erlebt, dass es hier so still war.
    Unsere Schule stand auf einem Hügel, und von ihrem Dach hatte man einen ungehinderten Blick auf die Stadt und das Meer. Einmal hatten wir ungefähr zehn alte Schallplatten aus dem Musikraum geklaut und sie wie Frisbees vom Dach segeln lassen. Sie beschrieben einen herrlichen Bogen. Sie waren so glücklich mit dem Wind in Richtung Hafen gesegelt, als wären sie auf einmal lebendig geworden. Doch eine von ihnen verpasste den Aufwind und trudelte schwerfällig auf den Tennisplatz hinunter, wo sie ein paar Zehntklässlerinnen, die dort trainierten, in Schrecken versetzte, was erhebliche Unannehmlichkeiten nach sich zog. Das war vor über einem Jahr gewesen, und nun musste ich Izumi hier wegen der Kondome Rede und Antwort stehen. Ich schaute zum Himmel, wo ein Milan seine anmutigen Kreise zog. Ich stellte mir vor, wie schön es sein musste, ein Milan zu sein und einfach nur am Himmel dahinzufliegen. Zumindest brauchte er sich keine Gedanken über Verhütung zu machen.
    »Magst du mich denn wirklich?«, fragte Izumi leise.
    »Natürlich!«, antwortete ich.
    Sie sah mich mit zusammengepressten Lippen an. So lange, dass mir ganz unbehaglich zumute wurde.
    »Ich mag dich auch«, sagte sie endlich.
    Aber, dachte ich.
    »Aber«, fuhr sie wie erwartet fort, »wir wollen nichts überstürzen.«
    Ich nickte.
    »Sei nicht so ungeduldig. Ich habe mein eigenes Tempo. Ich bin nicht besonders clever. Ich brauche Zeit, um mich vorzubereiten. Meinst du, du kannst warten?«
    Wieder nickte ich wortlos.
    »Versprichst du es mir?«
    »Ich verspreche es.«
    »Du wirst mich nicht verletzen?«
    »Nein«, sagte ich.
    Izumi senkte den Blick und sah auf ihre Schuhe. Es waren gewöhnliche schwarze Halbschuhe. Neben meinen wirkten sie klein wie Puppenschuhe.
    »Ich habe Angst«, sagte sie. »In letzter Zeit fühle ich mich manchmal wie eine Schnecke ohne Haus.«
    »Ich habe auch Angst«, sagte ich. »Und fühle mich wie ein Frosch ohne Schwimmhäute.«
    Sie hob den Kopf und sah mich an. Dann lachte sie ein bisschen.
    Ohne etwas zu sagen, gingen wir in den Schatten des Gebäudes, umarmten und küssten uns. Eine Schnecke ohne Haus und ein Frosch ohne Schwimmhäute. Ich drückte Izumi an mich. Unsere Zungen berührten sich. Ich legte die Hand auf ihre Brust, besser gesagt auf ihre Bluse. Aber sie stieß mich nicht zurück. Sie schloss nur die Augen und seufzte. Die Brust war nicht groß, doch sie schmiegte sich in meine Hand, als wäre sie dafür geschaffen. Sie legte ihre Hand auf mein klopfendes Herz, und es war, als würden die Berührung und mein Herzschlag miteinander verschmelzen. Sie war natürlich ganz anders als Shimamoto. Sie konnte mir nicht geben, was Shimamoto mir gegeben hatte. Aber sie war bei mir und bereit, mir zu geben, was sie geben konnte. Welchen Grund hätte ich haben sollen, sie zu verletzen?
    Damals hatte ich noch keine Ahnung. Ich wusste nicht, dass ich irgendwann einen Menschen so tief verletzen würde, dass er sich nie mehr davon erholte. Dass ein Mensch durch seine bloße Existenz einen anderen so sehr verletzen konnte.

3
    Von da an waren Izumi und ich über ein Jahr lang zusammen. Wir trafen uns ungefähr einmal in der Woche. Dann gingen wir ins Kino, lernten zusammen in der Bibliothek oder streiften ziellos durch die Gegend. Doch in sexueller Hinsicht kam es nie bis zum Äußersten. Hin
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