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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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das Haus verlassen? Um in den Flur zu gelangen, musste man durchs Wohnzimmer, und um das Gartentor zu erreichen, am Küchenfenster vorbei. Natürlich hätte ich Izumi meiner Tante als Klassenkameradin vorstellen können, die mich besuchte. Aber angeblich lernte ich ja wie verrückt für eine Arbeit. Käme heraus, dass ich stattdessen ein Mädchen bei mir hatte, wäre die Hölle los. Meine Tante zu bitten, meinen Eltern nichts zu verraten, kam ebenfalls nicht infrage. Sie war eigentlich eine gute Seele, aber sie konnte nicht die kleinste Kleinigkeit für sich behalten.
    Während meine Tante in der Küche ihre Einkäufe auspackte, schnappte ich mir Izumis Schuhe und brachte sie in mein Zimmer im ersten Stock. Sie hatte sich inzwischen vollständig angezogen.
    Als ich ihr die Lage erklärte, wurde sie noch blasser. »Was soll ich denn jetzt bloß machen? Was, wenn ich hier nicht weg kann? Ich muss zum Abendessen zu Hause sein. Wenn ich nicht rechtzeitig da bin, gibt es einen Riesenkrach.«
    »Mach dir keine Sorgen, uns fällt schon was ein«, sagte ich, und sie ließ sich beruhigen. Allerdings hatte ich selbst keine Ahnung, wie ich sie aus dem Haus schmuggeln sollte.
    »Außerdem ist eine von meinen Strumpfhalterschnallen weg. Ich habe schon überall gesucht, aber ich finde sie nicht.«
    »Strumpfhalterschnallen?«, fragte ich.
    »Ja, so ein kleines Ding aus Metall, ungefähr so groß.«
    Ich suchte den Boden und das Bett ab. Ohne Erfolg.
    »Nichts zu machen«, sagte ich. »Du musst leider ohne Strümpfe gehen.«
    Als ich in die Küche kam, war meine Tante dabei, Grünzeug zu schneiden. Das Salatöl reiche nicht, sagte sie, ob ich nicht irgendwo welches holen könne. Da mir kein Grund einfiel, mich zu weigern, stieg ich auf mein Fahrrad und holte in einem Laden in der Nähe Salatöl. Es dämmerte bereits, und ich wurde allmählich nervös. Wenn nichts geschah, würde Izumi wirklich nicht rechtzeitig aus dem Haus kommen. Ich musste etwas unternehmen, bevor meine Eltern auftauchten.
    »Die einzige Möglichkeit ist, dass du dich rausschleichst, wenn meine Tante auf die Toilette geht«, sagte ich.
    »Meinst du, das klappt?«
    »Wir müssen es versuchen. Wir können ja nicht einfach hier sitzen bleiben.«
    Unser Plan war folgender: Ich würde unten Wache halten und sobald meine Tante auf die Toilette ging zweimal laut in die Hände klatschen. Dann sollte Izumi die Treppe hinunterschleichen, ihre Schuhe anziehen und leise das Haus verlassen. Nach gelungener Flucht würde sie mich aus einem Telefonhäuschen anrufen.
    Fröhlich singend hackte meine Tante ihr Gemüse, kochte Misosuppe und briet Omelettes. Immer mehr Zeit verging, aber sie machte keine Anstalten, auf die Toilette zu gehen. Ich wurde zunehmend unruhiger. Diese Frau musste über eine gigantische Blase verfügen. Doch als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, nahm sie endlich ihre Schürze ab und verließ die Küche. Kaum war sie im Bad verschwunden, rannte ich ins Wohnzimmer und klatschte zweimal in die Hände, so laut ich konnte. Izumi schlich die Treppe hinunter, schlüpfte hastig in ihre Schuhe und verließ so leise wie möglich das Haus. Ich ging ans Küchenfenster, um mich zu vergewissern, dass sie sicher durchs Tor gelangte. Unmittelbar darauf kam meine Tante aus dem Bad. Das war gerade noch mal gut gegangen. Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich mir.
    Fünf Minuten später rief Izumi an. Ich sagte meiner Tante, ich würde in einer Viertelstunde zurück sein. Izumi wartete vor der Telefonzelle auf mich.
    »Das war das Letzte«, sagte sie, bevor ich den Mund aufmachen konnte. »So was mache ich nie wieder.«
    Sie war aufgewühlt und wütend. Ich ging mit ihr in einen Park am Bahnhof, und wir setzten uns auf eine Bank. Zärtlich ergriff ich ihre Hand. Über ihrem roten Pullover trug sie einen dünnen beigefarbenen Mantel, und ich dachte voll Wehmut an das, was sich darunter befand.
    »Es war wunderschön heute. Natürlich nur, bis meine Tante auftauchte. Findest du nicht auch?«, sagte ich.
    »Doch, natürlich. Ich bin immer gern mit dir zusammen. Nur wenn ich dann später allein bin, kommen mir so viele Fragen.«
    »Welche denn zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel, was später wird. Wenn wir mit der Schule fertig sind. Du gehst wahrscheinlich zum Studieren nach Tokio, und ich bleibe hier. Was wird dann aus uns?«
    Ich hatte beschlossen, nach der Schule in Tokio zu studieren, denn ich war zu der Einsicht gelangt, dass ich diese Stadt verlassen, mich von
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