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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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dass ich selbst nicht von mir überzeugt war.
    Nach Sonnenuntergang wurde der Wind plötzlich kälter und erinnerte mich daran, dass der Winter vor der Tür stand. Im neuen Jahr fanden die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten statt, und anschließend erwartete mich ein ganz neues Leben in einer anderen Stadt. Mein neues Leben würde mich wahrscheinlich verändern. Bei aller Unsicherheit sehnte ich diese Veränderung inbrünstig herbei. Mein Körper und meine Seele lechzten nach unbekannten Landen und frischem Wind. In diesem Jahr waren viele Universitäten von Studenten besetzt worden, und ein Sturm von Demonstrationen fegte durch die Straßen Tokios. Die Welt war im Umbruch, und ich wollte an diesem Fieber teilhaben. Auch wenn Izumi sich noch so sehr wünschte, dass ich blieb, und dafür bereit gewesen wäre, mit mir zu schlafen, hatte ich nicht die Absicht, länger in unserem ruhigen, langweiligen Städtchen zu bleiben. Auch wenn es das Ende meiner Beziehung zu Izumi bedeutete. Wenn ich blieb, würde ich meine Träume aufgeben, und das durfte nicht geschehen. Es waren verschwommene Träume, schmerzhaft und hitzig. Träume, wie man sie wohl nur mit siebzehn hat.
    Außerdem konnte Izumi sie nicht teilen. Ihre Träume waren von ganz anderer Gestalt und gehörten in eine andere Welt als meine.
    Doch bevor mein neues Leben tatsächlich begann, kam es zu einer unerwarteten Katastrophe zwischen Izumi und mir.

4
    Das erste Mädchen, mit dem ich schlief, war ein Einzelkind.
    Sie – oder »auch sie«, sollte ich vielleicht sagen – war nicht der Typ, nach dem sich die Männer auf der Straße umdrehen. Eigentlich war sie sogar fast unscheinbar. Doch schon als ich ihr das erste Mal begegnete, fühlte ich mich heftig von ihr angezogen. Es traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Warum, wüsste ich nicht zu sagen. Aber es geschah ohne Vorbehalte. Grundlos und unerklärlich. Ohne Wenn und Aber.
    Von wenigen Ausnahmen abgesehen, habe ich mich nie in Frauen verliebt, die im landläufigen Sinne als attraktiv galten. Manchmal machten Freunde, wenn wir zusammen auf der Straße gingen, Bemerkungen wie: »He, hast du die gesehen?« Seltsamerweise konnte ich mich später nie an die Gesichter dieser »Schönheiten« erinnern. Auch bildschöne Schauspielerinnen oder Models machten kaum Eindruck auf mich. Warum weiß ich nicht, aber es war so. Für mich war die Grenze zwischen der Realität und dem Reich der Träume schon immer fließend gewesen, und wenn das Verlangen seine geheimnisvolle Macht entfaltete, dann lag es nie daran, dass ein Mädchen besonders hübsch gewesen wäre. Auch nicht, als ich noch jung war.
    Keine messbare äußere Schönheit war es also, die mich anzog, sondern etwas Absolutes, Verborgenes. Ebenso wie manche Menschen insgeheim Wolkenbrüche, Erdbeben oder Stromausfälle lieben, liebte ich diese verborgene Anziehungskraft, die das andere Geschlecht auf mich ausübte. Ich würde diese unwiderstehliche Kraft, die einen Menschen anzieht, ob er will oder nicht, als »Sog« bezeichnen.
    Vielleicht lässt sie sich am ehesten mit dem Duft eines Parfums vergleichen. Vielleicht begreift nicht einmal der Parfumeur, der es kreiert hat, wie es seine besondere Macht entfaltet, denn dieser Vorgang lässt sich nicht wissenschaftlich analysieren. Auf nahezu unerklärliche Weise zieht eine bestimmte Kombination von Duftstoffen die Geschlechter zueinander, wie es auch bei Tieren in der Paarungszeit geschieht. Ein bestimmter Geruch mag für fünfzig von hundert Menschen anziehend sein. Die übrigen fünfzig bevorzugen eine andere Note. Doch es gibt auch Gerüche, die von hundert nur einen oder zwei Menschen anziehen. Das sind ganz besondere Düfte. Ich besitze die Fähigkeit, diese eigentümlichen Aromen wahrnehmen zu können. Ich erkenne solche schicksalhaften Düfte genau, rieche sie auch aus größter Entfernung. Dann drängt es mich, auf diese Frau zuzugehen und ihr zu sagen, dass vielleicht kein anderer diesen Duft erkennt, ich jedoch schon.
    Mit dieser Frau wollte ich vom ersten Augenblick an schlafen. Besser gesagt, ich musste mit ihr schlafen. Instinktiv spürte ich, dass auch sie es wollte. In ihrer Gegenwart zitterte ich buchstäblich am ganzen Körper und bekam immer wieder so heftige Erektionen, dass ich kaum gehen konnte. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich diesen Sog. (Wahrscheinlich hatte ich bei Shimamoto bereits einen Vorgeschmack darauf empfunden, war aber noch nicht alt genug gewesen, um dieses
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