Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
meinen Eltern lösen und allein leben musste. Mein Notendurchschnitt war nicht umwerfend, aber da ich in einigen Fächern, die ich mochte, auch ohne Lernen nicht schlecht abgeschnitten hatte, würde es wohl nicht schwer sein, auf einer privaten Universität mit einer geringen Anzahl von Prüfungsfächern unterzukommen. Allerdings bestand keine Aussicht, dass Izumi mit mir nach Tokio gehen würde. Ihre Eltern wollten sie bei sich behalten, und es war nicht anzunehmen, dass sie sich dagegen wehren würde. Bisher hatte sie nicht ein einziges Mal gegen ihre Eltern aufbegehrt. Deshalb wollte sie natürlich, dass ich ebenfalls in der Stadt blieb.
    »Hier gibt es doch auch gute Universitäten. Wieso musst du unbedingt nach Tokio gehen?«, sagte sie. Hätte ich ihr versprochen, nicht nach Tokio gehen, hätte sie vermutlich sofort mit mir geschlafen.
    »Komm schon, ich gehe ja nicht ins Ausland. In drei Stunden ist man dort. Außerdem sind die Semesterferien lang, drei oder vier Monate im Jahr bin ich sowieso hier«, sagte ich zum x-ten Mal.
    »Aber wenn du fortgehst, wirst du mich bestimmt vergessen. Und dir eine andere Freundin suchen«, sagte sie ebenfalls zum x-ten Mal.
    Und wie jedes Mal beteuerte ich, dass dies nicht geschehen würde. »Ich habe dich doch gern. Wie könnte ich dich einfach vergessen?«, fragte ich. Doch ehrlich gesagt war ich selbst nicht ganz überzeugt. Ein Ortswechsel konnte den Fluss der Zeit und der Gefühle in völlig andere Bahnen lenken. Ich erinnerte mich an das, was bei Shimamoto geschehen war. Wir hatten einander so nah gestanden, und dennoch hatten unsere Wege sich getrennt, sobald ich umgezogen und auf eine andere Schule gekommen war. Ich hatte sie sehr gern, und sie hatte mich immer wieder eingeladen, sie zu besuchen. Doch am Ende war ich nicht mehr zu ihr gegangen.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte Izumi. »Du sagst, du hättest mich gern. Und dass ich dir viel bedeute. Das glaube ich dir auch. Aber manchmal weiß ich einfach nicht, was du wirklich denkst.« Izumi zog ein Taschentuch aus ihrem Mantel und wischte sich die Tränen ab. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht bemerkt, dass sie weinte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also wartete ich darauf, dass sie weitersprach.
    »Du machst dir am liebsten deine eigenen Gedanken, und du magst es nicht, wenn andere versuchen, in dich hineinzuschauen. Vielleicht liegt es daran, dass du ein Einzelkind bist. Du bist es gewöhnt, mit allem allein fertig zu werden. Es genügt dir, wenn du selbst verstehst, worum es geht«, sagte Izumi und schüttelte den Kopf. »Oft verunsichert mich das. Ich fühle mich im Stich gelassen.«
    Ich hatte das Wort »Einzelkind« schon lange nicht mehr gehört. In der Grundschule hatte es mich immer geärgert. Doch Izumi verwendete es nun in einem ganz anderen Sinn. Sie wollte damit nicht sagen, dass ich mich wie ein verzogenes Kind benahm, sondern sprach von meinem Ego, das nicht aus seiner Isolation herausfand. Für sie war das einfach traurig.
    »Als wir eben zusammen auf dem Bett lagen, habe ich mich sehr wohl gefühlt. Ich dachte, dass vielleicht doch noch alles gut wird«, sagte sie beim Abschied. »Aber so einfach ist das nicht, oder?«
    Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause grübelte ich über alles nach, was Izumi gesagt hatte. Ich verstand, was sie meinte. Es war mir nicht gegeben, anderen mein Herz zu öffnen. Sie hatte sich mir geöffnet, während ich mich ihr verschlossen hatte. Ich hatte sie wirklich gern, aber in Wahrheit ließ ich sie nicht an mich heran.
    Ich war diesen Weg bestimmt schon tausend Mal gegangen. Doch nun hatte ich das Gefühl, in einer fremden Stadt zu sein. Die ganze Zeit über dachte ich daran, wie Izumi an diesem Nachmittag nackt in meinen Armen gelegen hatte. Ihre festen Brustwarzen, ihr weiches Schamhaar und ihre zarten Schenkel. Die Erinnerung war einfach zu überwältigend. Ich zog mir eine Schachtel Zigaretten am Automaten, kehrte zu der Bank im Park zurück, auf der ich gerade noch mit Izumi gesessen hatte, und zündete mir eine an, um mich zu beruhigen.
    Wäre meine Tante nicht plötzlich aufgetaucht, wäre bestimmt alles anders verlaufen. Auf jeden Fall hätten wir uns in besserer Stimmung getrennt und wären vielleicht sogar glücklich gewesen. Doch selbst wenn meine Tante an diesem Tag nicht gekommen wäre, wäre irgendwann etwas Ähnliches passiert, wenn nicht heute, dann morgen. Das größte Problem war, dass ich Izumi nicht von mir überzeugen konnte. Was daran lag,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher