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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges
Autoren: Julie Peters
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Prolog
    London, Juli 1910
     
    Das Schiff legte an einem klaren, hellen Julimorgen in London ab. Es war ein hübsches Schiff, nicht so klobig wie manche andere Schiffe am Pier, aber auch nicht so klein, dass Audrey hätte befürchtetn müssen, der kleinste Windstoß könne es von den Wellen heben.
    Es war, wie Reggie es so trefflich ausdrückte, ein gutes Schiff, mit dem man gerne um die halbe Welt reiste.
    Doch bevor sie an Bord gehen durfte und dieses große Abenteuer begann, musste Audrey sich von ihren Eltern verabschieden.
    Ihre Geschwister waren nicht mitgekommen. Sie waren am letzten Wochenende zu Hause in Southwold zu Besuch gewesen, um die Schwester ein letztes Mal vor der Abreise zu sehen. Für Audrey hatte es sich sehr endgültig angefühlt, als sie den zwölfjährigen Tom und die sechzehnjährige Catherine beim Abschied umarmt hatte. Ihr ältester Bruder John hatte sich in Oxford zwei Tage freinehmen können und ihr diese zwei Tage geschenkt. Sie wussten, wie weit Afrika weg war. Wie unwahrscheinlich es war, dass sie sich in Bälde wiedersehen würden.
    Vielleicht, dachte Audrey wehmütig, würde sie keinen von ihnen je wiedersehen.
    Das war der Moment, in dem sie begriff, was sie da tat. In die Fremde zu gehen, war das eine. Seine Familie zurückzulassen, etwas völlig anderes. Und mochten die Unterströmungen noch so reißend sein, die unausgesprochenen Dinge noch so schwer auf ihnen lasten … Was blieb, war dieser Abschied, dieses Gefühl der eigenen Endlichkeit angesichts der unendlich scheinenden Trennung.
    Als sie sich gestern Abend im Haus ihrer Eltern von Alfred verabschiedet hatte, hatte sein Verstand nicht begriffen, dass es für immer war. Er hatte Audrey fröhlich zugewinkt und fröhlich gerufen: «Ald, Dridri!»
    Bis bald, Audrey.
    Der Abschied von ihm fiel ihr besonders schwer. Sie vermisste ihn schon jetzt, und sie fürchtete, wenn sie nicht mehr jeden Tag bei ihm saß, würde irgendwann nicht mehr so gut für ihn gesorgt. Seine Pflegerin Emma würde sicher irgendwann nachlässig, die Eltern waren gleichgültig. Für sie schien Alfred nicht mehr zu existieren. Sie hatten den jüngsten Sohn ebenso aus ihrem Herzen verbannt wie ihre Tochter.
    Als Alfred ihr so ausgelassen winkte, war das der Moment, als sie zum ersten und letzten Mal weinen musste.
    Jetzt aber, am Pier von London, an der Seite ihrer Eltern, blieben ihre Augen trocken.
    Ihre Mutter stand steif neben ihr. Eleonore Collins blickte kalt, so kalt, dass nicht einmal der Wind wagte, ihren Hut in Schwingungen zu versetzen
    «Du wirst es dort gut haben», stellte sie rigoros fest, als fürchte sie, Audrey könne in letzter Minute zusammenbrechen und ihre Eltern anflehen, bei ihnen bleiben zu dürfen.
    Eine letzte Umarmung, kühl und pflichtbewusst. Diese steifen Arme sagten nichts. Audrey verschluckte sich an dem Kloß in ihren Hals. Ganz kurz spürte sie den gewölbten Leib der Mutter, der sich gegen ihren eigenen, flachen Bauch drückte. Nach über zehn Jahren Pause bekam sie ein sechstes Kind.
    Audrey verstand genau, warum.
    Ich weine nicht euretwegen.
    Sie versuchte, sich das einzureden. Dass der Abschied von den Eltern sie nicht ins Bodenlose stürzen ließ.
    Ich weine, weil ihr eurer Tochter nicht mal in der Abschiedsstunde ins Gesicht sehen könnt. Weil ihr in Gedanken schon bei einem neuen Leben seid, in dem ich keine Rolle spiele, und Alfred vielleicht auch nicht.
    «Audrey.»
    Ihre Mutter trat zurück und machte ihrem Vater Platz. Er musterte sie ernst, als prägte er sich ihr Gesicht noch einmal ein. Sie wussten beide, das war nicht nötig. Er würde das Gesicht der Tochter, die das Leben der ganzen Familie zerstört hatte, niemals vergessen. Das hatte er sie in den letzten zwölf Monaten immer wieder spüren lassen.
    «Vater», murmelte sie. Wie gerne hätte sie den Schneid gehabt, ihm jetzt noch einmal trotzig die Stirn zu bieten! Hatte er sie dafür nicht immer geschätzt? Hatte er damals nicht immer gesagt, wie stolz er doch auf seine Tochter sei, die sich nie für den einfachsten Weg entschied, sondern immer für den, auf dem sie kämpfen musste?
    Ich bin gestürzt. Keiner hat mich aufgefangen.
    Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte glauben, dass Besorgnis in den alten Augen ihres Vaters aufblitzte. Augen, die so alt waren seit letztem Sommer. Seit alles so anders war.
    «Mach uns keine Schande, hörst du?» Er nickte zu den beiden Leuten herüber, Reggie und Rose Winston, beide im Alter ihrer Eltern, die sie auf der
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