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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
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hinein. Sie ballte die linke Hand zur Faust und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Im nächsten Moment streckte sie den Arm, um Süden wegzustoßen und loszulaufen, aber er reagierte schneller, als sie erwartet hatte. Er umklammerte ihr Handgelenk, hielt es vor seiner Brust fest. Der Griff verursachte ihr Schmerzen, aber sie verkniff sich jeden Laut.
    Mit zusammengebissenen Zähnen stand sie vor ihm. Ihr schmales Gesicht sah eingefallen und grau aus. Süden vermutete, dass sie seit Tagen nichts gegessen hatte.
    »Ich bringe Sie zurück«, sagte er.
    »Wohin denn?«
    Er wusste es nicht, sagte: »Nach draußen.«
    »Ich bleibe hier.«
    Das war es also, was sie beabsichtigt hatte, als sie am Sonntag durch den Tierpark schlenderte und beim Polarium von einem Besucher gesehen wurde: Sie suchte ein Versteck, eine Bleibe, ihr eigenes Gehege in Hellabrunn.
    »Und wenn Sie erwischt werden?«
    »Mich erwischt niemand mehr.«
    »Versprechen Sie mir, dass Sie nicht weglaufen, wenn ich Sie loslasse.«
    »Nein«, sagte Ilka Senner.
    »Dann gehen wir Hand in Hand zum Ausgang.« Süden dachte an das Rucksack-Paar und überlegte, was die beiden gerade taten. Vielleicht betrachteten sie die Schlösser auf der Tierparkbrücke und nahmen sich vor, auch eines hinzuhängen, und vielleicht würde der Mann sagen: Dafür sind wir doch zu alt. Aber die Frau würde ihn überzeugen, dass das Alter keine Rolle spielte, wenn man ein Schloss an eine Brücke hängte.
    Süden hatte die Schlösser nie zuvor gesehen.
    »Ich will nicht mit Ihnen gehen«, sagte Ilka Senner.
    »Sie haben keine Wahl.«
    »Ich will hierbleiben. Ich bin eine erwachsene Frau, ich kann tun, was ich will. Niemand hat das Recht, mich festzuhalten.«
    »Das ist wahr«, sagte Süden und ließ ihre Hand los. Ilka wusste nicht, wohin mit ihrer Hand, steckte sie in die Manteltasche und zog sie gleich wieder heraus.
    Rund um das Polarium waren sie die letzten Besucher. Es musste kurz vor achtzehn Uhr sein.
    »Gehen wir«, sagte Süden.
    »Sagen Sie dem Dieda und der Charly, mir fehlt nichts, ich musste nur mal raus, ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomm.«
    »Sie lügen mich an.«
    »Wieso denn?«
    »Sie wollen nie mehr zurückkommen. Das sollten Sie Ihren Leuten selbst sagen.«
    »Ich mag Sie nicht.«
    »Sie sind weggegangen, weil Sie nicht lesen und schreiben können und Angst haben, erwischt zu werden.«
    Als wäre die Angst die Pranke eines Eisbären, der nach ihr schlug, duckte sich Ilka und sah Süden wie ein gehetztes, verlorenes Tier an. Er griff wieder nach ihrer Hand, die arktisch kalt war. Unter dem Rand der fusseligen Wollmütze starrten ihn zwei große, helle Augen an, unentwegt, ohne eine Bewegung der Lider.
    »Sie gehen zu den Tieren«, sagte Süden, »weil die auch nicht lesen und schreiben können und trotzdem eine Daseinsberechtigung haben.«
    Sie schüttelte mechanisch den Kopf.
    »Sie haben sich Ihr Leben lang perfekt versteckt.«
    »Perfekt versteckt«, sagte sie mit kleiner Stimme und lächelte, mechanisch, so, wie sie gerade den Kopf geschüttelt hatte.
    »Und auf einmal sollen Sie das Geschäft übernehmen und sich in Buchhaltung auskennen, in der Bürokratie mit Anträgen und Mahnbriefen und Stellungnahmen. Wie hätten Sie das schaffen sollen?«
    »Geht gar nicht.«
    »Das geht gar nicht«, bestätigte Süden. »Obwohl Ihnen Charlotte Nickl helfen wollte, sie möchte, dass Sie das Lokal übernehmen und weiterführen.«
    »Ich will das nicht.« Sie stand immer noch reglos da, ließ ihre Hand von Süden festhalten und schien nichts dabei zu empfinden. Hinter ihr kam ein Mann in einem karierten Hemd und einer Latzhose näher und hob den Arm. Süden sah zu ihm hin, und Ilka drehte den Kopf.
    »Sie müssen den Park verlassen«, sagte der Mann.
    »Ja«, sagte Süden.
    »Am besten, Sie gehen zum Flamingo-Eingang, wissen Sie, wo der ist?«
    »Ja.«
    »Gut.«
    Süden drückte Ilkas Hand und zog sie mit sich. Gebeugt ging sie neben ihm her. Süden roch die Ausdünstungen des Mantels.
    »Sie wollten hier über Nacht bleiben«, sagte er, »und sich morgen unter die Besucher mischen. Und am nächsten Tag dasselbe. Wovon hätten Sie sich ernährt?«
    Etliche Tiere waren noch draußen, streunten umher. Kängurus, Giraffen, die Silbergibbons. Das Gelände vor dem Elefantenhaus lag verwaist im grauen Abendlicht, die Tore waren geschlossen. Ilka sah nur auf den Weg vor sich, auf ihre abgetragenen, rissigen Stiefel. Sie ging langsam, Süden drängte sie
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