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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
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besorgt war, nicht den Notarzt verständigt habe, reagierte sie mit einem Achselzucken.
    Außerdem gestand sie, die Wohnung verlassen und in den Tierpark gegangen zu sein, der nur fünf Minuten entfernt lag. Was in der Zwischenzeit mit dem schwerverletzten Mann in der Badewanne passierte, schien ihr egal gewesen zu sein. Andererseits habe sie ihr Handy zurückgelassen, in »relativer Reichweite für den Verletzten«, wie die Kommissarin sich ausdrückte. Dazu machte die Verdächtige keine Angaben.
    Ob sie in das Haus zurückgekehrt wäre, wenn Tabor Süden sie nicht dazu gezwungen hätte, wollte Kommissarin Hesse am Ende wissen. »Er hat mich nicht gezwungen«, erwiderte Ilka Senner. »Wenn ich ihm nicht begegnet wär, wär ich im Tierpark geblieben, für immer.« Auf die Frage, was sie mit »für immer« meine, senkte sie den Kopf, schüttelte ihn und versank in Schweigen.
    Das Einzige, was sie von Süden wissen wollte, als er ins Kommissariat kam, war, ob er ihren Freunden ausgerichtet habe, dass sie nicht wiederkommen werde und sich dafür entschuldigen wolle. Er hatte es getan, und niemand im Lokal hatte gewusst, wie man darauf reagieren sollte.
     
    »Waren Sie inzwischen noch mal im Lokal?«, fragte sie in der U-Haft.
    »Nein.«
    »Alle warten auf Sie, damit Sie erklären, was genau passiert ist.«
    »Sagen Sie mir, was genau passiert ist, Frau Senner.«
    »Ich möcht, dass Sie Ilka zu mir sagen, wie meine Gäste.«
    »Was ist wirklich passiert, Ilka?«
    Sie warf der Vollzugsbeamtin, die neben der Tür des schmucklosen Besucherzimmers saß, einen Blick zu und verschränkte die Arme vor ihrem graukarierten Hemd, das sie zu einer Leinenhose trug. Als Untersuchungshäftling hätte sie ihre eigene Kleidung tragen dürfen, was sie mit den Worten abgelehnt hatte: »Ich bin doch eine Gefangene wie alle anderen.«
    Auf die Näharbeiten und das Verpacken von Kartons freue sie sich, sagte sie, solche Tätigkeiten seien ihr von früher vertraut.
    »Ich hab mein Leben lang Angst gehabt«, sagte sie. »Am meisten vor mir selber. Jetzt nicht mehr. Deswegen wär ich auch zu den Bären rein und hätt mich auffressen lassen.«
    »Sie haben keine Angst vor dem Gefängnis?«
    »Auf einmal?«, sagte sie. »Nein. Ich hab auch keine Angst mehr vor mir. Alles vorbei.«
    »Sie werden viele Fragen beantworten müssen«, sagte Süden. »Von Ihrem Anwalt, von einem Arzt, einem Psychiater und später vor Gericht.«
    »Das weiß ich. Fragen beantworten ist leicht, ich sag: Ja, das stimmt, oder: Nein, das stimmt nicht. Was wirklich wahr ist, weiß nur ich, und das geht niemanden was an. Ich servier den Leuten, was sie von mir verlangen, das ist mein Beruf. Schon vergessen, Herr Süden?«
    »Nein.«
    »Nein, Sie vergessen so schnell nichts, das hab ich schon gemerkt.«
    Er schaute sie an und sah einen Schatten ohne Jugend.
    »Wissen Sie, wieso ich im Gefängnis lesen lernen möcht?« Ihr Gesicht zeigte keine Regung.
    Süden schwieg.
    »Damit ich die Schilder im Tierpark lesen kann. Dann mach ich einen Ausflug, mit Ihnen, Luisa …« Sie nickte der Vollzugsbeamtin zu. »Und ich besuch die Äffchen und die Antilopen und die Robben und Pinguine, die alle so eingesperrt sind wie ich, und dann fahren wir wieder zurück, hierher, wo wir hingehören, Sie und ich, Luisa. Das wird schön.«
    Nachdem sich das Gefängnistor hinter ihm geschlossen hatte, hörte Süden nicht auf zu gehen. Er ging von der Stadelheimer Straße bis nach Harlaching, hinunter zur Marienklause, Kilometer um Kilometer. Er überquerte die Isar und ging mit schweren, ungehorsamen Schritten weiter am Kanal entlang bis nach Thalkirchen. Nach vier Stunden – wieder und wieder war er im Kreis gelaufen, wie ein Bär in seinem Gehege – erreichte er die Tierparkbrücke, wo er zu Boden sank, sich ans Gitter lehnte und den Kopf unter den Armen vergrub. Leute schlenderten oder fuhren mit dem Rad an ihm vorbei, die meisten glaubten, er wäre betrunken. Aber er war bloß ein Mann voller verwahrloster Gedanken am Ende eines Auftrags und eines gewöhnlichen, schamlos vergangenen Tages.
    Als es anfing zu regnen, hockte er immer noch da, ein Hausierer fernab der Häuser, mit kalten Händen und rasselndem Atem, der ihm wie ein letztes Besteck, das er nicht loswurde, geblieben war.
    Mit seinen müden Schultern verdeckte er die Liebesbeweise von Sandra+Benni und Angie+Krake und Evi+Max.
     
    In dem griechischen Lokal, in das Edith Liebergesell Süden zum Essen eingeladen hatte, beließen sie
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