Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
nahe des Pavianbergs, fragte ein Mann, der einen Lageplan in der Hand hielt, eine Frau nach dem Weg, und sie deutete nach Norden. Er wedelte dankbar mit dem Plan.
    Ein einziges Mal – daran musste Süden denken, nachdem er sich von Birgit Hesse verabschiedet und das Handy in die Tasche gesteckt hatte – war er mit seinem Vater im Zoo gewesen, da war er acht oder neun Jahre alt. Es war Sonntag und der Tierpark voller Besucher. Plötzlich war sein Vater verschwunden. Süden konnte ihn nirgends entdecken, er lief hin und her, quer durch den Park, drängte sich an Beinen und Kinderwägen vorbei, stolperte, fiel hin, seine Knie bluteten, denn er trug kurze Hosen. Er fing an, wildfremde Leute zu fragen, ob sie seinen Vater gesehen hätten. Einige lachten ihn an oder aus. Mütter strichen ihm über den Kopf und boten sich an, ihn zum Eingang zu begleiten. Das wollte er nicht. Er rannte weiter, an Flamingos und Elefanten vorbei, und bekam fast keine Luft mehr. Beim Haupteingang, daran erinnerte er sich die ganze Zeit, hatte sein Vater ihm ein Schild gezeigt, auf dem stand: »Treffpunkt für verlorene Kinder«. Dahin musste er gelangen, dort, so stellte er sich vor, würde sein Vater schon auf ihn warten. Tatsächlich fand er zurück zum Eingang, und er sah auch das Schild, aber nirgendwo seinen Vater. Er stellte sich genau neben das Schild und rührte sich nicht vom Fleck. Die Minuten vergingen wie Jahre. Nach ungefähr einer Stunde tauchte sein Vater auf, Schweiß lief ihm übers Gesicht, er war ganz bleich. Er umarmte seinen Sohn und hielt ihn so lange fest, dass Leute stehen blieben und die beiden anstarrten.
    An diese unbändige Umarmung, in die er bis zum Verschwinden seines Vaters, als er sechzehn Jahre alt war, nie mehr zurückkehren durfte, musste Süden denken, als er das Rucksack-Paar sah, wie es sich vor dem Pinguinhaus küsste und anschließend sanft die Wangen aneinander rieb.
     
    Seine Backe schürfte über das Emaille der Badewanne. Sein Kopf bewegte sich wie automatisch auf und ab. Kälte strömte in ihn hinein oder aus ihm heraus, so wie das Blut gestern. Fast einen ganzen Tag lag er schon da, die Hände über Kreuz auf dem Bauch, an der Stelle, wo die Wunde war. Ilka hatte ein Handtuch daraufgedrückt, und als er schrie, ihm ein Geschirrtuch in den Mund gestopft. Er dachte, er würde ersticken. Er zappelte mit den Beinen, und weil er nicht damit aufhörte, packte sie ihn an den Haaren und schlug seinen Kopf zweimal gegen die Innenseite der Wanne. Er dachte, er würde bewusstlos werden. Sie holte Unmengen von Pflastern aus dem Hängeschrank über dem Waschbecken und klebte sie auf die Wunde. Dann legte sie ein dickes grünes Handtuch darüber, später noch eines. Wie bei einem Kranken, der keinen eigenen Willen mehr hatte, hob sie seine Arme an, legte die Hände über Kreuz und fesselte sie mit einer Paketschnur, die sie aus dem Wohnzimmer geholt hatte.
    Zwischendurch verlor er tatsächlich das Bewusstsein, fünf oder zehn Minuten lang. Ihm fehlte jede Kraft, sich aufzurichten. Seine grüne Hose war dunkel von Blut, überall riesige Flecken, auch auf dem T-Shirt, rote Schlieren am Wannenrand. Ein beißender Geruch ging von ihm aus, von dem ihm schlecht wurde. Mit letzter Kraft schaffte er es, sich nicht zu übergeben.
    Irgendwann bemerkte er, dass die Tür des Badezimmers geschlossen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann Ilka gegangen war. Kein Geräusch von drüben. Oder doch? Was war geschehen?
    Sie hatte ihm ein Messer in den Bauch gerammt. Der Angriff kam so überraschend, dass er immer noch kein Bild dafür hatte. Er versuchte, sich den Moment vor Augen zu führen, konzentrierte sich auf diese eine Sekunde, als das Messer durch sein dünnes T-Shirt in seine Bauchdecke drang. Da war ein schwarzes Loch in seiner Vorstellung.
    Das Erste, was ihm wieder einfiel, war, dass er über den Boden gekrochen war und mit der Stirn gegen den Türrahmen geschlagen hatte.
    Daran erinnerte er sich genau. Aber was passierte vorher?
    Er war nicht aufmerksam genug gewesen. Er hätte begreifen müssen, dass sie nur ein Spiel mit ihm trieb, nach ihren Regeln, die ebenso willkürlich waren wie ihr ganzes Verhalten. Jetzt würde er sterben, und sie hätte ihr Spiel gewonnen.
    Bei dem Gedanken erschrak er. Der Gedanke, dass er in der Badewanne verbluten würde, löste einen Ruck in ihm aus, der ihn dazu brachte, den Oberkörper zu beugen, als wollte er sich aufrichten und mit den gefesselten Händen nach dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher