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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
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Mantelkragen, die Hände in den Taschen vergraben.
    Sie hatte, auch ohne einen Namen vollständig lesen zu können, begriffen, dass es sich um Symbole handelte, und da wurde ihr bewusst: Ihr Leben verlief vollständig ohne Symbole. Sie war die Bedienung Ilka und nichts weiter. Nicht einmal der Name des Lokals, in dem sie praktisch zu Hause war, bedeutete etwas anderes als »Charly’s Tante«. Charly von Charlotte und Tante von Tante Else, die seinerzeit ihr gespartes Geld zur Eröffnung der Kneipe beigesteuert hatte. Dass es auch einen Film mit dem Titel gab, wusste sie nicht. Der Name der Kneipe war nichts als ein Witz. So wie die Tatsache, dass sie Analphabetin war. Kein Symbol für irgendetwas, bloß die logische Folge ihrer verprügelten Kindheit.
    Würde jemand, der ihr Leben darstellen wollte, ein Schloss an eine Brücke hängen und ihren Namen einritzen? Als ein Zeichen ihrer Existenz und ihrer Verbundenheit mit dem Leben?
    Sie weinte, weil sie diesen Gedanken so komisch fand.
    Vermutlich hatte jeder Mensch ein Symbol, das ihn auszeichnete. So wie die Liebenden die Passanten daran erinnerten, dass es mehr gab als Freizeit und Arbeit und Ärger mit den Kindern und Zoff im Betrieb und morgens aufstehen und abends schlafen gehen. Dass es etwas Federleichtes gab. Etwas, das man festhalten musste, damit man am Ende des Lebens nicht mit ausgehöhltem Herzen ins ewige Dunkel hinunterstieg.
    Das ist nicht schwer zu verstehen, dachte Ilka.
    Dann sah sie, fast am Ende der Brücke, noch ein Schloss, das einsam, abseits der anderen, am Zaun hing.
    Sie beugte sich hinunter und begann mit dem linken Buchstaben. I-c-h-v-e-r-m-i-s-s …
    Sie richtete sich auf. Der Ledermantel drückte auf ihre Schultern. Bestimmt stand da auch ein Name, aber sie wollte nicht länger zaudern. Sie wollte jetzt unsichtbar werden, wie geplant.
    Sie bezahlte den Eintritt und schlug den Weg nach links ein, entgegen dem empfohlenen Rundgang – vorbei an Ochsen und Störchen und am verschatteten Gehege der Wölfe, die unruhig durchs Gesträuch liefen. Die Namen der meisten Tiere kannte sie nicht, aber sie schaute sie trotzdem gern an und unterhielt sich mit ihnen, fast wie mit den Stammgästen in ihrem Lokal, in das sie nicht zurückkehren würde.
    Ihre Zeit war abgelaufen. Das hatte sie mit dem Zeiserl gemeinsam, dachte sie und warf einen flüchtigen Blick auf die große Voliere, in der die Vögel unter einem vergitterten Himmel flogen.
    Was sie dem Zeiserl angetan hatte, war nicht gerecht, sagte sie sich, aber es war auch unvermeidlich gewesen. Wenn er starb, war sie eine Mörderin, wenn er nicht starb, so etwas Ähnliches. Sie würde sich nicht dafür schämen. Die Zeit, sich zu schämen, war vorbei.
    Genug geschämt mit sechsundvierzig Jahren, sagte sie zum Ameisenbär und wartete auf keine Antwort.
    Ohne innezuhalten, ging sie am Elefanten- und Schildkrötenhaus vorbei, wich Kinderwagen schiebenden Vätern aus und schaute einem etwa vierjährigen Mädchen hinterher, das eine winzig anmutende Jeansjacke und einen winzig anmutenden Jeansrock trug und fröhlich kreischend vor ihren Eltern herlief.
    Keine Symbole.
    Nicht einmal ein Kind als Symbol für die Anwesenheit auf der Erde.
    Kein Kind, kein Mann. Nur eine tote Katze.
    Vor dem Pinguinhaus blieb sie erschöpft stehen. Sie hatte ein Stechen in der Leiste und rang nach Luft. Die kuriosen Vögel hüpften ins Wasser. Die wenigen Kinder, die noch zuschauten, trommelten gegen die Scheiben.
    Ihr erstes Ziel hatte sie erreicht. Jetzt musste sie nur noch geschickt sein. Hinter dem Haus stieg ein steiler, mit Bäumen und Büschen bewachsener Hang an, der von keinem Zaun begrenzt wurde. Ihre erste Nacht war gesichert.
    Sie drehte sich um und sah einen Mann in einer Lederjacke auf der Bank sitzen. Er schaute zu ihr her, ununterbrochen. Sie beschloss, ihn nicht zu beachten, und ging weiter, zu den Eisbären.
    Der Mann stand auf und folgte ihr. Und dann sprach er sie an.

[home]
    14
    M ein Name ist Süden«, sagte er. »Ihre Gäste und Ihr Chef bezahlen mich dafür, dass ich Sie suche, Frau Senner.«
    »Ich bin nicht Frau Senner.«
    »Sie sind nicht Ilka Senner?«
    »Nein.«
    »Lügen Sie ruhig weiter«, sagte er, »ich glaube Ihnen sowieso nicht.«
    Sie nestelte an ihrer Mütze und warf verstohlen einen Blick zum Wald.
    Süden schwieg.
    Sie waren stehen geblieben. Ilka Senner nahm die rechte Hand aus der Manteltasche, ließ den Arm hängen, nahm die Linke aus der Tasche, steckte die Rechte wieder
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