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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
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Telefon greifen, das vor der geschlossenen Tür lag.
    Ilka hatte ihr silbernes Handy dort hingelegt.
    Jetzt sah er sie wieder vor sich. Wie sie, nachdem sie schon rausgegangen war, noch einmal die Tür einen Spaltbreit öffnete und das Handy auf den Fliesenboden legte.
    Sie wollte ihn lächerlich machen.
    Dann fiel ihm noch etwas ein: Bevor sie das Handy hinlegte, hielt sie es hoch, in seine Richtung, wortlos, sie schaltete es ein, tippte vier Ziffern, vermutlich den PIN -Code, wartete auf die Erkennungsmelodie und betrachtete das Display. Einige Sekunden später ertönte ein Zeichen, wahrscheinlich hatte sie eine Nachricht erhalten. Dann noch ein Zeichen und ein drittes. Sie stand da, schaute weiter das Display an. Als kein Ton mehr kam, verschwand sie.
    Wenn er es schaffte, den Wannenrand zu überwinden, könnte er Hilfe holen, den Notarzt, die Polizei, die Psychiatrie.
    Er hätte sie niemals gewähren lassen dürfen.
    Wie damals Joseph, seinen Bruder, der so viel Spaß daran hatte, fremde Keller auszukundschaften, Abteile aufzubrechen und in fremden Sachen herumzuschnüffeln. Er begleitete ihn oft, Joseph war fünf Jahre jünger und ein Kindskopf. In Wahrheit war er kein Kindskopf, sondern ein Hurensohn. Wann immer sich die Möglichkeit bot, sperrte er seinen älteren Bruder in ein ekelhaftes Kellerloch und erzählte daheim, der Bertold wäre mit Zigeunern mitgegangen. Dann suchten seine Eltern nach ihm, und wenn sie ihn nicht fanden, alarmierten sie die Polizei. Meist sagte Joseph bald die Wahrheit, und er, Bertold, kam frei. Als Bertold volljährig wurde, sagte er zu seinem Bruder, er würde ihn umbringen, wenn er nach seinem sechzehnten Lebensjahr weiter in Salzburg oder in Österreich bleiben würde. Eine Woche vor seinem sechzehnten Geburtstag haute Joseph von zu Hause ab. Er hinterließ eine Nachricht, dass er sich nach Amerika durchschlagen und dort bleiben würde. Bertold hatte sich vom Bundesheer zwei Tage freigenommen und war nach Salzburg zu seinen Eltern gereist, angeblich um an der Geburtstagsfeier seines Bruders teilzunehmen. Joseph kapierte sofort, was Sache war.
    Die blöde Kuh wollte allen Ernstes, dass er sie für ein paar Wochen verschwinden ließ.
    Was für ein armseliges Leben, dachte er, als die Tür aufging. Er hatte geglaubt, Ilka wäre längst weg.
    »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte sie. »Von Mimi hab ich mich grad verabschiedet, das ist meine Katze, weißt du. Ich leih mir deinen Ledermantel aus und die rote Wollmütze, die gefällt mir. Ich hoff, du hast nichts dagegen. Danke fürs regelmäßige Lüften meiner Wohnung, das war nett von dir. Du blutest wieder. Falls dich jemand findet und du lebst noch, sag ruhig, dass ich dich abgestochen hab. Mich findet niemand mehr, aber die Wahrheit muss schon ans Licht. Das Handy lass ich dir da, zur Erinnerung.«
    Sie schloss die Tür.
    Er hörte ihre Schritte, dann nichts mehr. Sie musste die Haustür extrem leise geschlossen haben. Das ist fast nicht möglich, dachte Zeisig, die knarzt doch immer.
    Die Wollmütze hatte Janine für ihn gestrickt. Janine tat immer, was er wollte. Bis auf das eine Mal, als sie ihm die große Show in Hannover versaut hatte. Danach lag sie fünf Monate im Krankenhaus. Niemand wusste, was passiert war, und sie wusste es offensichtlich auch nicht, sie sei gestürzt, hieß es.
    Soweit er wusste, trug sie heute eine Prothese am rechten Handgelenk.
    Er wollte nicht sterben. Er wollte noch einmal als Zauberer auftreten und in fiebrige Gesichter schauen. Ein bestimmtes Gesicht würde ihm schon genügen, dachte er. In seinem Bauch schlug jemand Nägel ins Blut.
    Das dämliche Gesicht von Aki Polder, das wär’s wert, dachte er noch, bevor er wieder bewusstlos wurde.
     
    Vor den kleinen Vorhängeschlössern, die im Drahtzaun der Thalkirchener Brücke hingen, blieb sie lange stehen. Am Sonntag, im Gewühl der Leute, hatte sie keine Augen dafür gehabt. Die vielfarbigen, glänzenden Metallschlösser hingen auf beiden Seiten der Brücke, hauptsächlich in der Mitte, eng nebeneinander, eine verschworene Gemeinschaft von Liebenden.
    Michi+Anna, Pepe+Clara, Sabrina+Nick, Billie+Robin, Tobi+Lisa und unzählige andere Namen, eingeritzt und verziert auf blauem, grünem, rotem, gelbem, silbernem Grund.
    So etwas hatte Ilka Senner noch nie gesehen. Doch das war nicht der Grund, warum sie stehen blieb und die Buchstaben anschaute und unauffällig weinte, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, mit hochgestelltem
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