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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
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Erwartung.
    Dann sagte Dieter Nickl, den jeder Dieda nannte: »Ich geh jetzt schiffen, und dann wird Klartext geredet, habt’s mich?«
    Süden zog seinen Spiralblock und den Kugelschreiber aus der Tasche. Klartext, dachte er, den wollte er notieren, zumal ein Mann ihn angekündigt hatte, der am Sonntagvormittag gegen elf Uhr bei seinem vierten Weißbier angelangt war und gegen dessen bisheriges Aussagenkonglomerat die babylonische Sprachverwirrung von Hemingwayscher Klarheit gewesen sein musste.
    »Da bin ich wieder.« Nickl setzte sich, wie vorher, Süden gegenüber und rieb sich die Hände. Vielleicht, dachte Süden, hatte er sie sich auf dem Lokus zumindest in Unschuld gewaschen. »Jetzt pass mal auf, die Ilka ist seit achtzehn Jahren bei mir …«
    Für Süden eine Neuigkeit, als hätte ein verschwitzter Bote ihm zugeflüstert, der Papst sei katholisch.
    »… Achtzehn Jahre, das ist eine Ewigkeit. Ist dir das klar? Entschuldigung, wenn ich du sag, das passt schon, oder?«
    »Unbedingt«, sagte Süden.
    »Ich bin der Dieda.«
    Und der Bote flüsterte weiter: Der Jesus auf dem Bild ist der mit den Wundmalen.
    »Und weil das so ist, ist es vollkommen ausgeschlossen, dass die Ilka einfach abgehauen ist. Ist das jetzt mal nachvollziehbar? Begreifen Sie, begreifst du, was ich dir damit sagen will, als Mensch und Freund und Wirt. Der Ilka ist was zugestoßen, ein Verbrechen. Und das muss aufgeklärt werden. Und zwar zügig. Und zwar von dir.«
    Süden sagte: »Ich bin kein Polizist.« Eine Wahrheit so wahr wie ein leeres Bierglas.
    »Das weiß ich doch«, brüllte Nickl ihm ins Gesicht.
    »Ganz ruhig, Dieda«, sagte Claus Viebel, der auf der Bank neben Süden saß. »Der Detektiv hat dich schon verstanden.« Er wandte sich an Süden. »Sie haben das verstanden, was der Dieda meint? Er meint, die Ilka ist womöglich ermordet worden, verschleppt, man weiß nichts. Die Polizei war hier, hat uns alle befragt, auch die Angehörigen, Spuren gesichert angeblich. Sie sagen …«
    »Sie sagen …«, sagte Nickl und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf Süden, und Viebel schloss allmählich seinen Mund. »… Die Ilka ist erwachsen, sie ist sechsundvierzig, das kommt ja noch dazu, sie weiß, was sie tut. Das ist das Problem, polizeilich gedacht. Sie kann machen, was sie will. Sagt die Polizei. Hinweise auf ein konkretes Verbrechen … keine da. Angenommen, du verschwindest plötzlich …« Er meinte, schätzte Süden, seinen Freund neben sich, Johann Baumann, falls Süden ihn nicht mit einem der anderen verwechselte.
    »Stell dir vor, wir sitzen hier, und du kommst nicht. Am nächsten Tag auch nicht, das ist doch … Polizei her. Ja, der Mann, der ist erwachsen, wie alt bist du, Johann? Wie alt genau?«
    »Genau fünfundsechzig«, sagte Johann, und es klang nicht nach einer Ode an die Freude.
    »Genau. Mehr erwachsen kann man nicht werden als fünfundsechzig. Was ist dann?«
    Wovon redet er?, dachte Süden und betrachtete sein leeres Glas, wagte aber nicht, an der unerhörtesten Stelle des Monologs einen dürstenden Blick zum Tresen zu werfen.
    »Dann ist«, sagte Nickl, ohne seinen Nachbarn anzusehen, »nichts. Da ist nichts. Du liegst in einer Odelgrube in Unterzeismering …«
    »Was für eine Odelgrube?«, sagte Viebel.
    »Was?«
    »Ich war noch nie in Unterzeismering«, sagte Johann Baumann. Außer Nickl war er der einzige Weißbiertrinker am Tisch. Er trank einen Schluck und starrte vor sich hin. Süden hoffte, der Mann versetzte sich nicht in die Lage einer Leiche in einer Odelgrube, nicht an einem heiligen Sonntag.
    »Das ist doch vollkommen egal«, sagte Nickl. »Ich sprech hier allgemein, von der Natur der Polizei. Verschwunden heißt: Niemand sucht nach dir. Nach einem Kind würden sie suchen, das ist klar. Aber nach dir nicht, nach mir auch nicht. Und nach der Ilka auch nicht. Und sogar wenn du verschwindest, Süden, sucht niemand nach dir, jedenfalls nicht die Polizei. Die Charly war mal in Helsinki verschwunden, ich hab mir Sorgen gemacht, weißt du das noch, Charly?«
    Die Frau am Tresen unterbrach das Polieren der Gläser. Seit zwanzig Minuten polierte sie ein Glas nach dem anderen und sah dabei aus, als dächte sie über Dinge nach, die Süden wissen sollte. Vielleicht wirkte auch nur der Weißwein und löste ein philosophisches Schauen bei ihr aus.
    »Hörst du zu?« Nickl beugte sich über den Tisch. Interessanter Atem umwaberte den Detektiv. »Das ist ja der Grund, warum wir dich herbestellt
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