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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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einfach etwas Abstand braucht? Sich doch noch über seine alberne Bemerkung ärgert? Eine Reihe von Bemerkungen, um genau zu sein. Aber warum war sie dann über Nacht geblieben? Wenn sie wirklich so sauer gewesen war?
    Nein, der Streit war kein richtiger gewesen. Ein 5-Minuten-Streit allenfalls, eine Art Verstimmung.
    Oder vielleicht war da noch ein anderer Kerl? Bislang hätte er das nicht für möglich gehalten. Doch wie gut kann man einen Menschen nach ein paar Monaten schon kennen.
    Natürlich fragte er sie: Wie viele hast du schon geliebt? Doch sie wich solchen Fragen aus, lachte bloß.
    »Was meinst du denn? Wie viele Kerle kann ich mit achtzehn Jahren schon geliebt haben?«
    Als er sie zum ersten Mal sah, wirkte sie konzentriert, vor ihr auf dem Tisch im Café lag ein Stapel Fotokopien, die sie aufmerksam durchlas, einen Textmarker in der Hand. Ihren Milchkaffee trank sie langsam, für mindestens eine viertel Stunde vergaß sie ihn, genau wie den Milchschaum auf ihrer Oberlippe.
    Die Haare trug sie offen, doch es war windig, und immer wieder streiften sie ihr Gesicht, blieben an ihren Lippen hängen, am klebrigen Milchbart, irgendwann wischte sie ihn fort. Später band sie ihre Haare zusammen; die Fotokopien, die sie schon gelesen hatte, wendete sie und stellte einen leeren Aschenbecher darauf.
    Unter dem Tisch stand ihre Tasche und irgendwo dort war auch Kapitän. Liam hatte ihm die Hälfte von seinen Nudeln gegeben: Penne al Arabiata, viel zu viel Öl, viel zu viel Knoblauch, das Mädchen war eindeutig interessanter. Er hatte noch gedacht: Dieser Köter frisst wirklich alles.
    Und bislang war er ihm dankbar gewesen, dass er in Annas Tasche gekotzt hatte. Wie sie die Dinge einzeln daraus hervorzog: einen Lippenstift, ein Päckchen Taschentücher, ihre Geldbörse: Alles mit einer schleimigen Schicht Hundekotze ummantelt, mit roten Chilistücken besprenkelt. Er war sofort aufgestanden, um ihr zu helfen, doch sie: Nein, nein, das geht schon, sie wollte alles auf der Toilette abwaschen.
    Später erzählte sie ihm, was sie in diesem Moment gedacht hatte: Erst glotzt dieser Typ mich ewig an, und dann kotzt auch noch sein verrückter Hund in meine Tasche.
    Er lud sie zu dem Milchkaffee ein, den sie nicht ausgetrunken hatte; ihre Nummer gab sie ihm nur, weil Kapitän so unglaublich lange Ohren und eine Augenklappe hat.
    Marie ruft zurück: Selma wäre im Urlaub, ihr Anrufbeantworter berichtet von einer Segeltour in der Karibik, erst in zwei Wochen wäre sie wieder da.
    »Vielleicht wohnt Anna so lange bei ihr?«
    »Ach was. Davon hätte sie mir erzählt.«
    Hinter seinen Schläfen beginnt es zu pochen, er möchte endlich verstehen. Worüber er mit Marie noch sprechen soll, weiß er nicht, schon immer war es ihm schwergefallen, sich mit ihr zu unterhalten. Eine Weile schweigen sie, Kapitän schläft im Schatten, Liam hält Ausschau nach vorübertreibenden Krokodilen, und irgendwann meint Marie: »Vielleicht ist ja was passiert.«
    Er fragt sich, was sie mit was meint, antwortet aber »Ja« und klingt dabei heiser. In Gedanken ergänzt er: Das wäre mir fast lieber. Dann würde das alles wenigstens einen Sinn ergeben.
    Marie schlägt vor, in Krankenhäusern anzurufen, vielleicht sogar bei der Polizei? Den letzten Gedanken findet Liam überstürzt. Die Polizei. Ob das wirklich notwendig ist? Nach einem Tag, an dem sich jemand nicht zurückmeldet?
    »Lass uns morgen noch mal drüber sprechen. Wenn sie bis dahin nicht wieder da sein sollte. Die Bullen würden uns eh wieder nach Hause schicken. Uns raten, erst mal abzuwarten.«
    »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber die Krankenhäuser sollten wir abtelefonieren.«
    »Das mach ich schon. Ich melde mich bei dir, wenn ich was erfahre.«
    Er starrt auf den Fluss. Immerhin etwas, das sich bewegt. Das fließt, das Bestand hat. Das im seltsamen Widerspruch steht zu dem Gefühl des Stillstandes. Doch irgendwo muss sie ja sein. Irgendeine Erklärung wird sie schon haben.

Sonntag, Tag 3, Anna

    I ch bleibe so lange wie möglich auf der Toilette. Natürlich kann ich nicht abschließen, doch ich bleibe sitzen, auf dem nach unten geklappten Klodeckel, die Beine angezogen. Wie klein man sich machen will.
    Meine Hände tasten über die braungelben Kacheln an der Wand, sie sind alt, genau wie das Haus, das muffig riecht. Ein winziges Milchglasfenster steht einen Spalt offen, ich erkenne ein Stück blauen Himmel, die Felder darunter sind voller Ähren und erstrecken sich weit hinter
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