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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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mit geschlossenen Augen nachzeichnen könnte. Ihre Haut ist durch die Sonne verblichen, grüne Patina schimmert dort, wo die Körper einmal rosig waren. In der Auslage liegen noch immer ein paar Plüschhandschellen, er erinnert sich, wie Anna stehen blieb und auf sie deutete; ihre Frage, ob er überhaupt schon mal im Laden war. Er verneinte, obwohl das nicht stimmt, obwohl er ein paar Filme vor ihr versteckt.
    »Kauf uns die Handschellen«, forderte sie. »Und wenn du mit der schwarzen Plastiktüte aus dem Laden kommst, fotografiere ich dich .«
    Sie betonte dich , weil ansonsten er es ist, der fotografiert, dessen Kamerastativ an der immer gleichen Stelle steht, im Erker seiner Wohnung, das Objektiv auf den Sexshop gerichtet. Der Vorhang hinter der Tür ist in schmale Streifen geschnitten: Schwarze Stirnfransen, die manche Gedanken verbergen sollen. Flattert der Vorhang, tritt jemand hinaus, und er drückt den Auslöser. Stiehlt verlegene Blicke, in einem hastigen Moment zur Seite geworfen. Nur selten sind die Blicke entschlossen, manchmal bei Paaren, die gemeinsam etwas Neues entdecken wollen, ihre Küsse, die schwarze Einkaufstüte in ihren Händen, auch sie soll das Innere verbergen.
    Annas Lachen, als sie zum ersten Mal durch das Objektiv schaute. Ihr Auge klebte davor, noch bevor sie sich in seiner Wohnung richtig umgesehen hatte.
    »Was willst du mit den Bildern machen?«
    Sein Schulterzucken, sein Grinsen.
    »Keine Ahnung. Hab eben keine Briefmarkensammlung.«
    Ihre Hände strichen über die großformatigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, chronologisch geordnet in einem Karton, manchmal wendete sie ein Bild, um sich am Datum zu orientieren. Irgendwann rief sie: »Hey, den Typen kenn ich doch! Das ist dieser Penner aus der Stadt. Schau mal, der hat immer tausend Plastiktüten dabei. Ich fasse es nicht: Der trägt das Geld, das ich ihm gebe, in den Sexshop!«
    Die Nacht ist warm, aus den Gassen dringt das stetige Murmeln der Straßencafés, der Sommer fühlt sich an, als würde er noch lange bleiben.
    Im Biergarten am Fluss sind alle Tische besetzt, doch ohnehin sitzt Liam lieber auf den Stufen am Wasser, mag den Geruch von nassen Steinen. Neben ihm: eine Gruppe junger Leute, ihre Gläser klirren in der Nacht.
    Er betrachtet das Mädchen zu seiner Rechten, endlos lange Beine hat sie, ihre Füße stecken in Sandalen, die Zehen sehen perfekt aus. Sind wahrscheinlich irgendwie lackiert, denkt er.
    Wie so viele Leute streckt sie ihre Hand zum Hund aus, immer sind es die Schlappohren, die zuerst berührt werden wollen.
    »Schau mal, ein Basset«, flüstert sie ihrer Freundin zu.
    Ihre erste Frage an Liam ist Routine: Sie will wissen, warum das Tier eine Augenklappe hat.
    »Weil er nur ein Auge hat«, beginnt er. »Und ein Hund mit nur einem Auge und ohne Augenklappe würde aussehen wie ein Monsterhund und kleine Kinder erschrecken.«
    Sie lacht, ein warmes Lachen ist es, warme Milch mit Honig. Und doch schickt sie noch einen Unterton mit, ein Zwischen-den-Tönen-Ton: leise SOS-Zeichen in der Nacht.
    »Der Arme. Wie ist das passiert?«
    Sein Blick klebt auf ihren Beinen.
    »Hatte bislang nicht so viel Glück. Wurde im Wald gefunden und ins Tierheim gebracht. Vielleicht hat er das Auge im Wald verloren oder wurde geschlagen.«
    »Du hast den Hund aus dem Tierheim?«
    Er sagt ja, obwohl das nicht stimmt, obwohl es Emma war, die den Hund entdeckte. Emma: Das geht fast wie Anna, von hinten wie von vorn. Ein Anagramm. Die Gedanken an seine Schwester. Auf der anderen Seite der Welt beginnt jetzt ein neuer Tag. Down under. Weiter weg fahren hätte sie nicht können.
    Der Hund stupst ihn an. Vielleicht stimmt es, dass die Viecher Traurigkeit spüren können. Auch das Mädchen neben ihm ist still geworden. Sie sendet nicht nur SOS-Zeichen, anscheinend kann sie auch welche empfangen.
    Warum sitzt sie so am Fluss? Als würde sie nur darauf warten, dass irgendein Kerl sie aufgabelt. Das macht manchen Männern doch Angst. Nicht jeder ist auf einen Quickie aus. Erst recht nicht, wenn die Einsamkeit einer Frau so spürbar ist. Da fühlt man sich ja unter Druck gesetzt, bevor es richtig losgeht. Hastig kippt er den Rest Bier herunter und sagt Tschüss, ihr Lächeln ist traurig.
    Natürlich könnte er an Annas Wohnungstüre klingeln. Doch es reicht, dass er davorsteht. Jemanden, der nicht zurückruft, möchte man nicht besuchen. Jemandem, mit dem man nicht richtig verabredet ist, gibt man auch keinen Haustürschlüssel.
    »Selbst wenn«,
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