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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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geöffnete Fenster, dahinter eine hochgewachsene Tanne, tiefblauer Sommerhimmel.
    Wo wir wohl sind? Warum hat er keine Bedenken, bei geöffnetem Fenster zu schreien?
    »Wenn du aufs Klo willst, musst du dich an Regeln halten. Und dazu gehört, dass du sagst, wer der Chef ist.«
    »Das habe ich doch früher zu dir gesagt.«
    »Was?«
    »Das mit den blauen Augen. Ich dachte, du würdest dich daran erinnern. Deswegen musst du mich nicht schlagen.«
    Eine Krähe landet auf der Tanne, der Ast schaukelt unter ihrem Gewicht: die einzige Bewegung an diesem windstillen Tag.
    »Ich hab dich nicht geschlagen.«
    »Doch, das hast du. Du hast mich ins Gesicht geschlagen.«
    »Ich habe dich bestraft . Aber da bist du selbst schuld.«
    Mein Leben ab heute: Der Raum einer Vase, hier gelten andere Gesetze, gegen die Glaswand will ich klopfen und hoffen, dass einer mich hört.
    Er fragt: »Also?«
    »Warum willst du das hören? Es ist doch klar, dass ich nicht der Chef bin.«
    Seine Wangenknochen beginnen zu mahlen.
    »Okay. Du bist der Chef.«
    Seine Hände dirigieren durch den Raum, zuerst streicht er sich die Haare aus dem Gesicht, dann gleiten sie über meine Wange, dazu seine Erklärungen: Klo und Dusche befinden sich nur zehn Schritte vom Bett entfernt, er wird die Schritte zählen, keinen zu weit in die falsche Richtung, sonst.
    Ich setze mich im Bett auf, langsam, ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und reibe die Handgelenke, zeichne die Linie der Einschnürungen mit den Fingerspitzen nach. Meine nackten Füße streifen den Teppichboden.
    Es ist etwas anderes, wenn man solch einen Menschen kennt. Ich greife nach seinen Händen, umfasse sie, er schreckt vor der Berührung zurück, will sich zurückziehen. Ich schaue ihn an.
    »Natan.« Meine Finger streichen über seinen Handrücken.
    »Das kannst du doch nicht machen.«
    Noch im selben Moment lässt er mich los, steht auf und umfasst die Stuhllehne, seine Fingerknochen treten weiß hervor.
    »Hör auf, so mit mir zu reden. Sonst.«

Samstag, Tag 2, Liam

    E s ist 10 Uhr, als der Hund die Schnauze in sein Gesicht hält. Liam kann ihm nicht böse sein, dennoch will er den Traumfaden nicht verlieren: Bilder von Anna, die auf einem Pony sitzt und durch die Stadt reitet, ihre Erklärungen: Ich muss das Pferd nach Hause bringen, ich konnte dich nicht anrufen, aber ich hatte Kapitän gebeten, dir Bescheid zu sagen.
    Er könnte ihr verzeihen, findet Liam und dreht sich auf die andere Seite, der Hund grunzt, als wollte er sagen: Erinnerst du dich an damals, als ich ins Bad gepinkelt habe? Da hab ich’s auch nicht mehr ausgehalten. Liam wirft einen Blick auf das Handy: Keine Nachrichten.
    Scheiße. Das darf echt nicht wahr sein.
    Kapitän legt den Kopf schief, als würde er was davon verstehen.
    »Wo ist deine Augenklappe?«
    Sofort wedelt der Hund mit dem Schwanz, sucht im Zimmer umher und bringt schließlich eine Socke an.
    Vor der Tür schafft Kapitän es nicht bis zum Grünstreifen, sondern kürzt ab, überquert die Straße und pinkelt direkt an den Pfosten vor dem Sexshop. Sein Urin sickert über den Asphalt, findet seinen Weg in Ritzen, aus denen dichte Grasbüschel wachsen. Währenddessen beobachtet Liam die hagere Frau auf der anderen Straßenseite – ihre Gestalt ist im Viertel bekannt: Wie ein Storch sieht sie aus, die fettigen Haare zu einem langen, faserigen Zopf gebunden, das Gesicht eingefallen, als hätte sie seit Monaten keinen Frosch mehr gefangen. Was sie stattdessen fischt, sind Gegenstände aus den Hinterhöfen: kleine Blumentöpfe, eine Fahrradpumpe, Kataloge aus überfüllten Briefkästen. Immerzu sieht er sie mit nutzlosen Dingen umherstaken. Er beobachtet, wie sie in den Hinterhof seines Wohnhauses schleicht, heute hätte er nicht übel Lust, sie anzubrüllen, Kapitän auf ihren Hund zu hetzen, bloß um sich abzureagieren.
    Anna schlägt jedes Mal vor, sie zu verfolgen, herauszufinden, wo und wie sie lebt, ihre Wohnung stellt sie sich vollgestopft vor, mit hundert nutzlosen Dingen von den Hinterhof-Streifzügen. Oder geordnet nach Themen: ein Regal rund ums Fahrrad: 28 Pumpen, 13 Körbe, 54 Katzenaugen. Oder Briefe, mit dürren Händen aus den Kästen gefischt. Eine Rechnung an Herrn Schmidt, eine Postkarte an Frau Weber.
    Liam beobachtet, wie die Frau den Hinterhof wieder verlässt, keine Spuren von ausgebeulten Taschen; geklaut haben wird sie diesmal nichts. Schade eigentlich. Er hätte sie gerne angeschrien.
    Er zieht Kapitän weiter, der Anblick der
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