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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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die Augenklappe über und setzt das Tier schließlich in den Fahrradkorb vor das Lenkrad. Dass dies nach alter Oma aussieht, ist ihm egal. Sollen die Leute denken, was sie wollen, er lässt das Auto lieber stehen. Außerdem gibt es keinen anderen Weg zu den Feldern als den mit dem Fahrrad.
    Dort angekommen lässt er den Hund frei laufen. Vorher zieht er ihm die Augenklappe aus: Kapitän wühlt im Unterholz nach Hasen und Mäusen, manchmal frisst er auch welche. Am Ufer legt Liam sich in den Schatten, der Hund wird ihn finden, selbst wenn er einschläft. Auch Enten dösen hier, einbeinig, den Kopf nach hinten in die Federn gesteckt. Manchmal schwimmt ein Ast vorbei, der aussieht wie ein vorübertreibendes, schlafendes Krokodil.
    Und wenn Marie um vier Uhr nicht ans Telefon geht?
    Und wenn Anna bis morgen nicht anruft?
    Dass es überhaupt so weit kommen konnte. Dass er zum Abendessen Blumen auf den Tisch stellt. Dass er sich zum Affen macht, nicht mehr richtig arbeiten kann, dass sein Tagesablauf vom Blick auf das Handy bestimmt wird, von den Zeigern der Uhr.
    Kapitän kehrt zurück, die Schnauze gepudert mit warmer, trockener Sommererde. Liam schmeißt ihm Leckereien ins Wasser – soll das Viech schwimmen und sauber werden. Die Enten wachen endgültig auf und watscheln in Richtung Wasser davon.
    »Pass auf die Krokodile auf!«, ruft Liam, und ihm wird klar: Schon nach einem Tag ist es seltsam, mit niemandem zu reden, da muss der verdammte Hund herhalten.
    Er möchte das abschließen. Ihr sagen: Du kannst mich mal, und ruft sie an, ihre Mailbox eine vertraute Stimme in seinem Ohr. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht für (und dann ihre Stimme): Anna Hansen.
    Anna Hansen mit den langen Beinen. Mit den glatten braunen Haaren. Die Kohleskizzen zeichnet, von ihm und Kapitän, von seiner Wohnung, von der Kamera im Erker. Um halb vier hält er es nicht mehr aus und ruft Marie an.
    »Hi, hier ist Liam.«
    »Liam? Oh, hi.«
    Am liebsten würde er gleich fragen, was dieses Oh bedeutet. Ob das bedeutet, dass Anna bei ihr ist und verleugnet werden möchte, ob das bedeutet, dass sie weiß, wo Anna ist und es ihm nicht sagen wird, ob es rein gar nichts bedeutet.
    »Wie geht’s dir?«
    »Gut so weit. Bereite mich gerade für die Prüfungen vor.«
    Klar: Marie, die immer lernt. Die eine andere Note als eine Eins in eine Krise stürzen würde.
    Er sagt: »Anna ist weg«, und horcht in die Stille der Leitung, wie Marie versucht, diese Nachricht zu begreifen.
    »Wie meinst du das – weg ?«
    »Ich meine, dass wir gestern Abend verabredet waren und sie nicht aufgetaucht ist. Dass sie nicht ans Telefon geht, nicht zu Hause ist, sich nicht meldet.«
    »Oh.«
    »Ja, oh .«
    In der Stille der Leitung sucht Marie nach einem Ankerpunkt, genau wie er.
    »Habt ihr euch gestritten?«
    »Nein.«
    »Sicher?«
    »Was soll das?« Seine Stimme klingt fahriger, als er beabsichtigt hatte.
    »Okay, ist schon gut. Nur, warum sollte sie nicht kommen, wenn ihr verabredet wart?«
    »Keine Ahnung. Ich dachte, vielleicht hast du eine Idee. Irgendeine Erklärung?«
    »Puh, Liam. Ich hab wirklich keine Ahnung.«
    »War sie vielleicht mit jemand anders verabredet?«
    »Jemand anders? Ich wüsste nicht, mit wem …«
    »Du weißt es nicht? Oder du willst es mir nicht sagen?«
    »Liam! Ich hab echt keine Ahnung, okay?«
    Mein Gott. Dass die Tussi immer so empfindlich sein muss.
    »Schon gut. Sorry. Ich versteh das nur einfach nicht.«
    »Ja, aber da kann ich doch nichts dafür!«
    Ihr Atmen im Hörer, sie scheint nachzudenken.
    »Kam das denn schon mal vor?«, fragt er schließlich. »Dass sie sich von heute auf morgen nicht meldet?«
    »Ja, vielleicht. Manchmal.« Stocken. »Wenn sie jemanden kennengelernt hat.«
    Dann ihr Rettungsversuch, eine Art nervöses Kichern: »Aber ich meine – sie hat ja gerade erst dich kennengelernt, oder?«
    Das Ziehen in seiner Magengrube ist stärker geworden. Allmählich begreift er, dass Marie ihm nicht helfen kann, dass sie nicht weiß, was los ist. Doch sie verspricht, Selma anzurufen und sich später wieder zu melden.
    In der Zwischenzeit hat er eine SMS von Felix bekommen: Heute Abend Biergarten, 20 Uhr?
    Er schreibt zurück: Okay. Weil er findet, dass er auch noch ein Recht auf ein anderes Leben hat, weil Warten nicht alles sein kann.
    Das kam schon mal vor , sagte Marie. Was hat dieser Blödsinn wieder zu bedeuten?
    Eigentlich nur, dass man einen Menschen doch nicht so gut kennt, wie man meint. Ob sie vielleicht
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