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Der Parasit: Kurzgeschichte

Der Parasit: Kurzgeschichte

Titel: Der Parasit: Kurzgeschichte
Autoren: Karin Slaughter
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EINS
    Ich schluckte den widerlichen Geschmack in meinem Mund hinunter, als ABBA durch den Raum schallte. Die wummernden Bässe der Britney-Spears- und Beyonce-Club-Mixes der letzten zwei Stunden waren gerade noch zu ertragen gewesen. Doch dann dreist auf die schwedische Supergruppe umzusteigen, ging eindeutig zu weit. »Dancing Queen« plusterte sich in meinem gesunden Ohr auf wie Zuckerwatte auf dem Rummel. Klebrig. Süß. Ich verspürte den primitiven Drang, mich in aller Öffentlichkeit zu erleichtern, nur um diesen Wahnsinn zu beenden.
    An Kirk ging das alles vorbei – er bewegte sich im Takt und stieß gelegentlich den Arm in die Luft. Ganz eindeutig eine John-Travolta-Pose. Ich muss zugeben, mein Bruder ist ein fantastischer Tänzer. Irgendwie gelingt es ihm, so mit der Musik eins zu werden, dass man sich fragt, ob er in eine der Buchsen am Mischpult des DJs eingestöpselt ist. Doch die Art, wie er sich ein Lied zu eigen macht, ist noch gar nichts im Vergleich zu dem Ausdruck tiefster Glückseligkeit, wenn er sich unter den spiegelnden Lichtern der Discokugeln bewegt. Man könnte sagen, dass er liebt, was er da tut. Das können nicht viele Leute von irgendetwas behaupten – weder von ihren Jobs noch von ihrer Familie oder ihrem Leben. Aber Kirk liebt das Tanzen. Und die Leute lieben es, ihm dabei zuzusehen. Und er liebt es, dass sie das tun.
    Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre hat Kirk mit seinen Tanzeinlagen jeden Club und jede Disco in Atlanta geschmückt. Ganz egal, wie oft die Leute ihn sehen, es ist immer das gleiche. Sie bleiben stehen. Sie starren ihn an. Öffnen staunend die Lippen. Kirk steht nicht nur im Mittelpunkt. Er ist ein Magnet. Selbst heute Abend war es ihm gelungen, direkt nach der Ankunft im »Pink Pony« mit kreisenden Hüften und geschmeidigen Schritten die Tanzfläche zu erobern. Frauen lächelten ihn ungeniert an und klatschten begeistert in die Hände. Männer starrten und staunten. Die unvermeidlichen Blicke, die folgten, trafen mich: Verwirrung. Mitleid. Ekel.
    Das war der Fluch des Zwillings: des jüngeren, weniger dominanten Bruders, dessen Haaransatz früher zurückwich, dessen Hals wie etwas aussah, das die Axt eines Farmers beim Truthahnschlachten am Morgen von Thanksgiving durchtrennen würde, des ewigen Außenseiters. Inzwischen war ich achtunddreißig und hatte dieses Schicksal angenommen. Kirk war immer der Interessante gewesen. Der Dynamische. Der Lustige. Derjenige, den alle Mädchen kennenlernen wollten. Selbst als die nervtötenden Klänge von »Fernando« den rauchigen Club füllten und alle auf die Tanzfläche stürmten, konnte ich bloß mit der Hand in der Tasche und gesenktem Kopf dastehen. Nur ein gelegentliches Zucken meiner Schulter verriet, dass ich nicht in ein irreversibles Koma gefallen war.
    Zierliche Finger glitten über Kirks Schulterblatt. Ich spürte eine Art Schauer, ein seltsames Ziehen im Magen und in der Leistengegend. Mit geschlossenen Augen versuchte ich, nur meinen eigenen Herzschlag zu hören, während die sacharinsüßen Schweden mir eröffneten, heute Nacht läge etwas in der Luft. Diese Szene hatte ich schon so häufig miterlebt, dass ich mir das Gespräch vorstellen konnte:
    Frau: »Lass uns gehen.«
    Kirk: »Wie viel?«
    Meist folgte eine kurze Verhandlung – Kirk zahlte nie den vollen Preis –, dann spürte ich einen Ruck, als wäre ich ein Tetherball – ein Ball, der mit einer Schnur an einer Metallstange befestigt ist und hin und her geschlagen wird. Kirk machte sich auf den Weg zum Hinterausgang, drängte jeden beiseite, der ihm im Weg stand. Mir blieb keine Wahl. Ich folgte ihm.
    Die Luft schlug mir kalt ins Gesicht. Ich warf einen prüfenden Blick auf Kirk. Die Veränderung war so schnell vor sich gegangen wie der Temperatursturz. Wie weggewischt war das verzückte Tanzflächenlächeln. Ein harter Zug lag um seinen Mund. Seine Augen hatten sich verengt und den gewohnt wachsamen Ausdruck angenommen. Diesen Kirk hatte bisher nur eine Handvoll Menschen gesehen. Das war der Kirk, den ich nur zu gut kannte.
    Ich wagte einen Versuch. »Wir sollten …«
    »Hier lang.« Er nickte in Richtung des Chrysler Town and Country, unseres Minivans mit Spitzenausstattung. Silbermetallic lackiert. Chromtrittbretter. Ledersitze. Komplette Multimediaanlage im hinteren Bereich.
    Kirk drückte auf die Fernbedienung am Schlüssel, die Tür glitt auf. Die Frau schien sich plötzlich nicht mehr so sicher zu sein.
    »Was ist?«, blaffte Kirk. Jetzt war er
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