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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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den Tannen.
    »Bleib nicht wieder so lange«, hat er gesagt. »Sonst.«
    Ich suche im Bad nach etwas, das ich als Waffe benutzen könnte. Ein Handtuchhalter ragt aus der Wand: Zwei stumpfe Arme, die für einen Schlag geeignet wären, aber meine Nägel zerbrechen bei dem Versuch, die Schrauben mit bloßen Händen herauszudrehen. Die Scheibe der Dusche ist aus Kunststoff, lässt sich nicht zersplittern, ansonsten ist dieser Raum beinahe leer: ein Kamm auf der Ablage, ein Deo, ein Stück Seife, Shampoo in der Dusche. In der Ecke eine schmierige Klobürste.
    Ich versuche, dieses Haus in meiner Erinnerung zu orten. Ob er es jemals erwähnte. Doch an was erinnere ich mich schon. Nur sehr deutlich an sein eigenes Haus, das er von seinen Eltern erbte: Die Zimmer dort wirkten so, als lägen sie immer im Schatten. Das riesige Eichenregal im Wohnzimmer, ein kratziges Sofa, auf dem er mich küsste, der Geschmack nach Himbeereis in unseren Mündern. Hinter dem Haus stand ein Kastanienbaum, daneben ein vergessener Gartenzwerg, die restlichen hätte er weggeschmissen, hat er gesagt. Doch er könnte ja nicht alles wegwerfen, was ihnen gehört hatte.
    An den Wänden im Wohnzimmer die Schattenrisse längst verschwundener Bilder: Eine trübe Seenlandschaft mit Stuckrahmen war das Einzige, das übrig geblieben war, daneben hingen seine eigenen Malereien: zumindest ein paar Farbtupfer auf der ansonsten vergilbten Tapete. Doch die grauen Abdrücke, Spuren der Vergangenheit, sickerten überall durch.
    Ich weiß noch, wie ich vorschlug: »Wir könnten doch hier mal streichen.«
    Er lachte nur und führte mich in sein Zimmer, wir gingen am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei, wo die Tür einen Spaltbreit offen stand. Hinaus drang ein Geruch wie lange nicht gelüftet, mein Blick fiel auf die Leere des Ehebettes, und ich meinte: »Lass uns doch lieber raus in die Sonne.«
    Er drückte mich auf sein Bett, das nicht gemacht war, ein zerknüllter Schlafanzug lag unter den Kissen, und in den Ecken Staubflocken: auf den Büchern, dem Radiowecker, alten Comics und den Regalböden.
    Danach war er glücklich und fragte, ob ich über Nacht bliebe, wir könnten Spaghetti kochen, aber ich behauptete, ich wäre noch nicht so weit. Stattdessen fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause, hielt am Fluss inne und weinte: Ich war erschüttert, dass Einsamkeit so tiefe Wurzeln schlagen kann. Gleichzeitig ekelte ich mich, allein der Gedanke an das ranzige Bettlaken.
    Ich meldete mich nicht, rief nicht zurück, nicht am nächsten Tag, nicht am Tag darauf. Ich weiß noch, wie ich Marie erzählte: Das war einer der schlimmsten Abende in meinem Leben.
    Doch der schlimmste kam erst danach, als wir uns zum letzten Mal trafen, ich wollte mit ihm über das Einzige sprechen, was wir gemeinsam haben: dass wir beide Waisen sind.
    Ich sagte: »Überall sickert deine Vergangenheit durch: in deinem Haus, deiner Malerei. Damit komme ich nicht klar, das ist so, als könnte ich deine Traurigkeit berühren, und das ist mir zu viel, das erinnert mich zu sehr an das, was ich selbst erlebt habe.«
    Reglos saß er an meinem Küchentisch und fiel in sich zusammen. Ich griff nach seinen Händen, doch er zog sie zurück.
    Was man in so einem Moment sagt: Es tut mir leid. Bitte versuch zu verstehen.
    Was ich in diesem Moment fühlte: Er tat mir leid, natürlich, ich mochte seine Augen, sie waren nicht nur blau, sondern grün gesprenkelt. Ich mochte seine Bilder, das Porträt, das er von mir gemalt hatte, ich mochte seine Hände, aber ich mochte sie nicht auf mir.
    Er sagte lange nichts, bloß irgendwann: »Deine Eltern, Anna. Wann sind die gestorben?«
    Das Einzige, was er bis dahin von ihnen wusste: Dass sie vor vielen Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen waren.
    Ich antwortete: »Vor zehn Jahren.«
    Er nickte, trank einen Schluck Wein.
    »Genau wie meine.«
    »Was soll das?«
    Seine Hände, noch immer lagen sie ruhig auf dem Tisch.
    »Gestern habe ich mir zum ersten Mal seit Langem die Berichte über den Unfall angeschaut: die ganzen Zeitungsberichte, die Fotos. Ich wusste nie, wer in dem Auto saß, mit dem meine Eltern zusammenstießen. Nur dass es ein Ehepaar war. Gestern hielt ich die Zeitung mit ihrer Todesanzeige in der Hand. Gleich daneben befindet sich eine andere Anzeige, nämlich die von Sophia und Wilhelm Hansen, gestorben in derselben Nacht.«
    Ich starrte ihn lange an. Meine Eltern habe ich mir immer anwesend vorgestellt, ich wollte, dass er ging und uns alleine ließ.
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