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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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Stattdessen stand ich auf, irgendwo hatte ich ein Päckchen Zigaretten, ich bot ihm eine an und dachte: Danach sollte er verschwinden.
    »Warum erzählst du mir das? Das ändert nichts, im Gegenteil.«
    Wie ein trauriges Kind schlug er die Augen nieder, dünne Rauchfäden hingen zwischen unseren Gesichtern, ich wollte weinen, aber nicht, solange er da war.
    »Irgendwie ergibt es so doch einen Sinn mit uns.«
    Seine Stimme war tastend, suchte nach Halt. Ich dachte an die vereiste Landstraße, an die Winternacht, in der ich ohne meine Eltern zu Hause geblieben war. Ins Theater wollten sie gehen, zum ersten Mal seit Jahren mal einen Abend zu zweit verbringen.
    Meine Hände zitterten, während ich die Asche abstrich, vielleicht dachte er sich das alles aus, hatte bloß recherchiert und nach einem Grund gesucht, mich an sich binden zu können.
    Dann der Schrecken, wie sich die Haare langsam auf meinen Armen aufstellten.
    »Guck mal, du hast duck-skin «, hätte Liam in diesem Moment gesagt. Gänsehaut .
    Ich stand auf und zog eine Strickjacke über, dabei blieb der Gedanke, diese fixe Idee, an mir kleben wie eine lästige Fliege: Und wenn er vom gemeinsamen Tod unserer Eltern schon viel länger weiß? Wenn er bereits wusste, wer ich war, bevor wir uns richtig kennenlernten?
    Ich dachte an den Tag zurück, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren: Das Café in der Altstadt; derselbe Ort, an dem ich Liam kennenlernte, zwei Jahre später.
    Natan hatte mich angesprochen, gefragt, ob er mich zeichnen dürfte. Dass ich auch noch so eitel sein musste und Ja sagte! Konnte er damals schon gewusst haben, wer ich war?
    Immer wieder versuchte er einen Zugang zu mir zu finden.
    »Meine Eltern hatten keine Schuld an dem Unfall. Sie gerieten auf Glatteis und dann auf die Gegenfahrbahn.«
    »Ich weiß.«
    »Bitte gib mir keine Schuld dafür.«
    Im Flur umarmten wir uns, es war das letzte Mal gewesen, dass ich ihn sah.
    Leise klopft er jetzt an die Toilettentür.
    »Anna. Die Zeit ist um.«
    Es gibt Regeln in diesem Zimmer.
    Regel Nummer 1: Nicht zu lange im Bad bleiben. Maximal 20 Minuten, zweimal am Tag, aber auch nur, weil Sommer ist, weil man zweimal duschen muss, um die Hitze im Zimmer zu ertragen.
    »Wenn es kälter wird«, hatte er vorhin gesagt, »brauchen wir nicht mehr so oft zu duschen. Im Winter.«
    Ich hatte die Luft angehalten. Hatte er das wirklich gesagt? Im Winter?
    So konnte er sich das doch nicht vorstellen. So lange konnte ich doch nicht bleiben. Nicht zusehen, wie sich draußen die Blätter verfärbten: erst gelb, dann rot, dann braun. Wie der erste Schnee fallen würde, die Äste der Tannen, wie sie sich unter der Schneedecke neigen würden.
    So was konnte man doch nicht einfach sagen. Der Satz blieb im Raum stehen und breitete sich aus, genau wie die Sommerhitze, genau wie er, wurde zudringlich und ließ sich nicht abschütteln.
    Regel Nummer 2: Ich darf ihn psychologisch nicht unter Druck setzen. Nicht versuchen, so mit ihm zu sprechen, wie ich es gestern versucht habe. Sonst.
    Genauso gut hätte er sagen können: Bitte während der Fahrt nicht mit dem Busfahrer sprechen.
    Regel Nummer 3: Muss ich auf die Toilette, möchte ich was Besonderes, ein frisches T-Shirt zum Beispiel oder ein Glas kaltes Wasser: Zuerst muss ich sagen, wer der Chef ist.
    Er fragt, ob ich ihn zeichnen möchte.
    Ich schüttele den Kopf, was für eine idiotische Idee, zumal meine Hände wieder gefesselt sind.
    »Die Fesseln würde ich dir natürlich abnehmen«, meint er, als könnte er Gedanken lesen.
    Wieder schüttele ich den Kopf und rolle mich auf dem Bett zusammen, schließe die Augen. Er streichelt meinen Arm.
    »Warum nicht? Das würde dir guttun.«
    Ich lasse die Augen geschlossen, während ich antworte. Auf diese Weise kann ich nicht sehen, ob seine Wangenknochen zu mahlen beginnen oder ob seine Fingerknochen hervortreten. Vielleicht wird er ja auch direkt zum Schlag ausholen.
    »Was ich zeichnen würde, würde dir nicht gefallen. Das wäre so, als würde ich offen mit dir sprechen. Und das darf ich ja nicht.«

Sonntag, Tag 3, Liam

    W as bleibt, sind Dinge. Eine Zahnbürste im Bad. Ein Shampoo in der Dusche, ihr Höschen in der Wäsche. Wäre es Winter, hätte sie vielleicht noch ein Nachthemd zurückgelassen. Oder einen sleep-on-train . Einen Schlafanzug.
    Wie sie immer über solche Wortkreationen lachte, neue dazuerfand.
    »Today, I have muscle-cat «, stellte sie fest und grinste. Duck-skin ließ sie nicht gelten, wenn schon,
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