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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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Hof stehen die großen Blumenkübel, die der Hausmeister pflegt, im Sommer gießt er sie jeden Abend. Sollte er dort hinreihern, würde der Alte ihnen die Haustüre mit Sicherheit nicht aufschließen.
    Marie erklärt, dass sie sich Sorgen um Anna machen, seit ein paar Tagen hätten sie nichts mehr von ihr gehört.
    »Wir müssen wahrscheinlich die Polizei informieren. Nur dachten wir, dass Sie uns vorher vielleicht die Wohnung aufschließen?«
    Der Alte mustert sie, er trägt eine dicke, sympathische Hornbrille auf der Nase. Liam hofft, dass er selbst einigermaßen Farbe im Gesicht hat und nicht aussieht wie einer, der die halbe Nacht gesoffen hat.
    Eine hagere Katze stiehlt sich zwischen ihren Füßen ins Treppenhaus, Kapitän knurrt, doch sie verschwindet direkt ins Freie.
    »Darf ich eigentlich nicht …«, beginnt ihr Gegenüber und vergräbt die Hände in den Taschen. Liam schaut auf die Füße, die in grünen Flipflops stecken. Die Zehen sehen gepflegt aus, und er fragt sich, ob der Alte noch so beweglich ist und sie selbst schneiden kann. Und warum er überhaupt Flipflops trägt. In dem Alter trägt man doch Badeschlappen, blau-weiß gestreifte, besser noch gepolsterte Hausschuhe, mit kariertem Muster.
    Marie insistiert, und irgendwann verschwindet der Mann in seine Wohnung, wühlt herum und findet den passenden Schlüssel.
    »Aber nix anfassen!«, warnt er. »Wir gucken nur, ob was passiert ist. Falls nicht, lassen wir alles, wie’s ist, und gehen wieder. Das ist wichtig. Falls die Polizei wirklich in der ihre Wohnung muss.«
    Wie stolz er ihnen das erklärt. Liam stellt sich vor, dass er gerne Krimis schaut. Die Katze wird eingerollt auf seinem Bauch liegen, aus der Glotze wird er alles über Tatorte wissen, wie wichtig es ist, einen Befund nicht zu zerstören.
    Kapitän betritt die Wohnung als Erster, wuselt zwischen ihren Beinen hindurch. Hat bereits alle Zimmer durchschnüffelt, noch bevor sie sich eines richtig angeschaut haben.
    Liams Blick streift das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, Annas Bett ist wie meistens nicht gemacht. Im Flur das übliche Sammelsurium ihrer Schuhe: Kommt sie nach Hause, werden sie achtlos in die Ecke geworfen.
    In der Küche findet er einen Stapel Bücher, eines liegt aufgeklappt da: der innere Aufbau des Herzens. Gleich daneben ein Glas mit einem Rest Orangensaft, außerdem ihr Notizblock: Ein Herz, skizziert in Schwarz-Weiß, ein perfektes Ebenbild von dem aus dem Buch.
    Wie genau sie einzelne Kanülen und Adern zeichnete, das gemalte Herz wirkt plastischer als das gedruckte. Wahrscheinlich wird sie keine Lust mehr auf die Prüfungsvorbereitungen gehabt haben. Wird sich gelangweilt und stattdessen zum Notizblock gegriffen haben, um das zu tun, was ihr wirklich liegt.
    »Warum studierst du Medizin?«, probierte er es, obwohl er wusste, wie ungern sie über dieses Thema sprach. Er wollte nur verstehen, warum.
    »Warum arbeitest du in einem Sender?«, holte sie gleich zum Gegenschlag aus. »In dem du wenig verdienst, bei dem du nach dem Volontariat wahrscheinlich eh keine feste Anstellung bekommst?«
    »Weil ich gerne Geschichten erzähle. Durch Sprache oder durch Bilder. Das ist das, was ich am besten kann. Deswegen bin ich in dieser Dokumentarfilmreihe genau richtig.«
    Sie nickte, wandte sich aber ab. Sie hatten auf der Wiese gelegen, gleich hier vor dem Haus, und Anna hatte ihm Gänseblümchen in den Bauchnabel gelegt. Gooseflowers .
    »Und ich bin gerne mit Menschen zusammen. Vor allem mit Kindern. Deswegen war ich nach dem Abi auch ein paar Wochen in Indien und habe in einem Heim gearbeitet. Ehrlich, Liam …«, sie machte eine Pause und steckte sich die Gänseblümchen zwischen die Finger. »Du kannst dir doch denken, warum ich Medizin studiere.«
    Über ihre Eltern sprach sie fast nie. Allenfalls über Selma, wie es war, bei ihr erwachsen zu werden. Dass Anna noch zwei Jahre nach dem Unfall bei ihr im Bett schlafen musste. Und dass Selmas damaliger Freund sie immerzu angestarrt hatte; schon mit 14 Jahren hatte Anna endlos lange Beine gehabt.
    Liam strich ihr über den Rücken, sie trug bloß diesen winzigen Bikini, unter ihrer braunen Haut zeichneten sich die einzelnen Wirbel ab.
    »Klar findest du das Studium interessant. Nur glaube ich nicht, dass es das ist, was du am besten kannst …«
    Sie sammelte die Gänseblümchen in der Hand. Ließ sie dann zurück in die Wiese rieseln wie etwas, das ihr lästig geworden war.
    »Vielleicht geht’s nicht immer darum, was man am
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