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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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bei dir übernachtet?«
    »Ja.«
    »Okay. Danach wird sie in die Uni gefahren sein, wahrscheinlich in die Bibliothek, auf ihrem Küchentisch lag ein Stapel Bücher. Zum Essen waren wir zusammen in der Mensa, danach ist sie bestimmt nach Hause gefahren …«
    »Und hat ihre Sachen zurückgeräumt. Die Pille in den Schrank, ihre Tuben auf die Ablage.«
    »Was für Tuben?«
    »Was weiß ich: Creme und so Zeugs.«
    »Ach so.«
    »Und dann?«
    »Du meintest doch, ihr wärt abends verabredet gewesen. Nachmittags war sie wahrscheinlich zu Hause? Oder ist vielleicht noch mal irgendwohin gefahren?«
    »Ja. Irgendwohin.«
    Sie berührt seinen Arm, etwas wie ein aufmunterndes Lächeln auf ihrem Gesicht.
    »Komm, das wird schon, Liam.«
    Wenn sie noch einmal Komm sagt. Klar: Sie wird es gut meinen. Dennoch – ihre Berührung dauert einen Moment zu lang und er zieht den Arm fort, ohnehin müssen sie den Tellern Platz machen.
    Sein Versuch, eine andere Erklärung zu finden: Vielleicht haben sie die Prüfungsvorbereitungen überfordert?
    Marie schüttelt den Kopf.
    »Du weißt doch, wie Anna das nimmt: leicht. Außerdem ist die Prüfung erst in drei Monaten. Und wir bereiten uns systematisch darauf vor, in Lerngruppen. Ihr kommt es noch nicht mal darauf an, sehr gut abzuschließen. Sie möchte einfach nur bestehen.«
    Wieder lächelt sie, spießt Rucola auf. Der bleibt immer im Hals stecken, würde Anna jetzt sagen.
    »Ich wünschte, ich könnte mir eine Scheibe von ihr abschneiden«, gibt Marie zu und klaubt ein Stück Hühnchen aus ihrem Salat, hält es Kapitän unter dem Tisch hin. »Ich meine: Das alles einfach leichter nehmen.«
    »Dann mach’s doch«, schlägt er vor, obwohl er weiß, dass Marie das nicht kann, dass sie zu sehr unter Druck steht mit sechs älteren Geschwistern, allesamt sind es Ärzte, Juristen oder Apotheker.
    Doch Marie kann nicht wissen, dass Anna ihm das meiste erzählt hat: zum Beispiel von dem Besuch bei ihrer Familie mit dem gemeinsamen Essen.
    »Liam, du kannst dir nicht vorstellen, wie ruhig es an diesem Tisch war, da wurde quasi nicht gesprochen! Bloß über die Arbeit, als wollten sie mit ihren Leistungen wetteifern. Die Mutter saß starr am Tischende und reichte zermatschten Brokkoli umher. Mich hat’s gewundert, dass sie selbst gekocht hat. Dass sie dafür nicht noch Personal haben. Das würde zu allem passen: ihrer Burg, dem langen Tisch, den zusammengekniffenen Ärschen. Die Einzigen, die ein wenig lockerer sind, sind Marie und ihr jüngerer Bruder. Der zwinkerte mir über den Tisch hinweg zu. Das war zwar auch peinlich, aber immerhin noch besser als diese Starre bei Tisch.«
    Er fragt Marie, welche Fachrichtung sie interessiert, und sie antwortet: Onkologie. Da könnte man noch so viel erreichen.
    Immerhin will sie keine Anästhesistin werden, findet Liam. Das Langweiligste überhaupt. Es sich nicht ganz so leicht machen, nur um später sagen zu können: Ich bin Ärztin.
    Du mit deinen Klischees, würde Anna wieder loslegen. Als ob es nur schwarz und weiß gäbe.
    Er wendet sich wieder Marie zu und versucht, irgendwelche Grautöne an ihr auszumachen.
    »Warum hast du dich für Medizin entschieden?«
    Ihr sicheres Lächeln, als wäre sie auf diese Frage vorbereitet.
    »Weil das eine Herausforderung ist!«
    Er nickt, findet die Antwort stereotyp. Was daran jetzt grau wäre, würde er Anna am liebsten fragen.
    »Und du? Dreht ihr immer noch die Reihe über den Klimawandel?«
    Er blickt auf seinen Teller, die Portion wird kaum kleiner, die Gnocchi schiebt er bloß von der einen zur anderen Seite, ihm ist immer noch schlecht.
    »Wo fliegt ihr denn als Nächstes hin?«
    »Nach Tuvalu. Ist ein Inselstaat im Südpazifik. Seine Landmasse ist so flach, dass sie demnächst vom Ozean verschluckt wird.«
    »Oh. Und wann ist demnächst ?«
    Allmählich nervt ihn dieses Geplauder. Einfach so hier zu sitzen, in einem Café, als wäre Anna nicht fort. Er ist kurz davor, ihr zu antworten: Ob du’s glaubst oder nicht – ist mir gerade scheißegal! Doch stattdessen schaut er wieder aus dem Fenster, nimmt endlich die Sonnenbrille ab.
    Nachdenklich tunkt Marie Baguette in die Salatsoße. »Und was passiert dann mit den Menschen auf Tuvalu?«
    Vielleicht gibt es doch ein paar Grautöne an Marie. Warum muss er die Leute auch immer gleich in eine Schublade stecken. Nur weil Marie Ringe trägt, einen Hut und all das Zeugs. Aber warum strahlt sie auch nichts Eigenes aus? Müsste er sie porträtieren, er wüsste
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