Stumme Angst (German Edition)
ausstreckt, damit Liam die Pfote halten kann. So etwas nennt man Pfote-Hand-Halten. Damit kann man irgendwann sogar einschlafen.
Montag, Tag 4, Anna
M an kann immer einen Grund finden. Jemanden zu berühren, den man nicht berühren darf. Jemanden anzufassen, der nicht angefasst werden will.
Ein Grund kann sein, dass dieser Jemand etwas sagt, was er nicht sagen durfte. Dass dieser Jemand schweigt, wenn er nicht schweigen sollte. Wenn dieser Jemand nicht aufhören kann zu weinen, weil er ständig an diese zwei Wörter denken muss: Im Winter.
Im Winter, dann. Möchte ich vergessen, dass ich jemals hier gewesen bin. Werden die Handgelenke nicht mehr schmerzen, nicht mehr die Arme. Werde ich vergessen haben, dass er mich jemals berührt hat.
Im Winter. Wenn die Polizei mich längst gefunden hat. Was sind schon die Jahre, die zwischen der Gegenwart und dem liegen, was ich mit Natan hatte? Eine Art Beziehung. Eine Art Beisammensein, zwei Monate vielleicht, oder waren es bloß sechs Wochen?
Ist auch egal – Marie wird sich an Natan erinnern. Wird der Polizei sagen: Da gab’s mal einen, der unheimlich war.
Das Fenster in diesem Zimmer: Noch immer geöffnet, doch in den Tannen keine Bewegung, selbst der Wind hat mich vergessen. Auf meinem Mund klebt ein großes Pflaster, er ist fortgefahren und hatte vielleicht doch Angst, dass jemand mich hören könnte. Ein Spaziergänger vielleicht oder der Bauer: Die Ähren hinter dem Haus hängen tief, müssen bestimmt bald eingeholt werden. Mit einem Traktor, der einen leisen Motor hat. Mein Schreien könnte lauter sein.
Ein leiser Motor, was für ein Quatsch! Als könnte man so einfach ein Motorengeräusch übertönen.
Das Brennen auf meinen Wangen, Tränen kühlen nicht, auch nicht im Sommer. Allenfalls müde machen sie, doch ich will lieber schlafen, wenn er da ist. Es gibt keinen anderen Ort, an dem ich mich sonst verstecken könnte.
Wie lange ist er fort? Drei Stunden oder schon vier? Wie lange muss man fahren, um zu diesem Haus zu gelangen? Wie lange möchte er mich alleine lassen? Schon jetzt bin ich dehydriert – die Hitze ist sein Vertrauter, der mich umklammert hält.
Ich denke über Flucht nach. Wie ich ihn überlisten könnte. Im Bad steht ein Sprühdeo. Das kann man entzünden: Alles, was ich dazu brauche, ist Feuer. Ich könnte ihn nach Zigaretten fragen, vielleicht würde dann ein Feuerzeug auf dem Tisch liegen. Ich könnte stolpern und danach greifen, bevor ich ins Bad gehe.
Das Messer habe ich bloß einmal gesehen. Es ist eins, das man aufklappen kann, ein breites, mit Klingen auf beiden Seiten. Eine mit einer Säge und eine zum Schneiden. Von Zwiebeln, einem Stück Obst. Einem Apfel zum Beispiel; die Schale kann man, wenn man geschickt ist, in einem Stück herunterschneiden. Eine Apfelring-Ziehharmonika kann man daraus machen. Liam schafft das nie, verliert jedes Mal die Geduld. Mit so einem Messer schneidet man doch keine Haut. Die Säge würde erst eindrücken, kleine Hügelketten auf dem Arm bilden. Erst später würden dicke Bluttropfen aus den Tälern hervorquellen; der Schnitt als Ganzes nur dann sichtbar werden, wenn man tatsächlich zu sägen beginnt. Im Winter. Wenn man nicht mehr weiß, wie das alles weitergehen soll.
Gerne würde ich sagen: Mama, es flüstern nur, so ein Flüstern kann helfen, damit man sich eine Person besser vorstellen kann. Dort auf der Bettkante könnte sie sitzen. Sie könnte sagen: Er hat nur etwas berührt, das sich so anfühlt wie du.
Ich schließe die Augen. Warum sollte ich mir keine Geschichte ausdenken? Zum Beispiel, wer hier lebte in diesem Haus. Wie viele Zimmer es hat, ob die Felder es ringsum umschließen. Ob es einen Kamin hat, in dem man Feuer entfachen kann. Im Winter. Wenn der Boden gefroren ist und zu hart zum Vergraben einer Leiche.
Als ich die Augen wieder öffne, sitzt er neben mir. Ich erschrecke, will von ihm abrücken, aber er lächelt und streicht mir über die Wange.
»Ich zieh das Pflaster ab.«
Die Haut darunter brennt und ist feucht zugleich, mit der Zunge fahre ich über die Oberlippe und schmecke Klebstoff.
»Hast du Durst?«
Ich nicke, wende den Kopf aber ab, suche nach dem Gesicht in der Holzlatte. Würde es nur etwas freundlicher dreinblicken.
»Ich möchte mich ans Fenster setzen. Ich kann nicht mehr liegen, Natan.«
Er nickt, streift sich über das Kinn. Sein Dreitagebart kratzt leise, dieses Geräusch mag ich ansonsten gerne, bei Liam.
Endlich steht er auf. Schließt das
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