Stumme Angst (German Edition)
Fenster, ich könnte auf die Idee kommen, herauszuspringen, behauptet er. Auch die Zimmertüre macht er zu, stellt einen Stuhl davor und setzt sich.
»Ich hab übrigens was mitgebracht«, sagt er und deutet auf einen Fernseher; er muss ihn reingetragen haben, als ich fest schlief.
»So können wir uns die Zeit vertreiben.«
Er lächelt, als würde er sich auf einen schönen Abend freuen. Ich selbst setze mich im Bett auf, erleichtert, die Arme frei bewegen zu können. Schon nach wenigen Tagen des Liegens werden die Muskeln schlapp. Wenn ich zwischendurch nicht ein wenig trainiere, werde ich noch schwächer sein. Mich kaum noch gegen ihn wehren können. Ich greife nach meinem Rock neben dem Bett, will nicht mit nackten Beinen durchs Zimmer laufen. Vor das Fenster hat er einen Stuhl gestellt: »Setz dich dorthin«, fordert er.
Ich schaue hinaus: Vor dem Haus erstreckt sich eine verwilderte Wiese, eine U-Form aus Tannen schützt das Grundstück, wie hochgewachsen diese Bäume sind. Unter ihnen erstreckt sich ein Beet aus Nadeln, wie sie sich wohl anfühlen, mit bloßen Füßen? Man braucht nur flach genug aufzutreten, dann ist der Untergrund gar nicht stachelig, sondern weich, die Erde darunter wattiert.
Ich erkenne Parasolpilze neben den Stämmen. Ihr Schirm ist geöffnet, bildet ein horizontales Dach und hat die richtige Form zum Braten. Mama würde ein Schnitzel daraus machen. Den Pilz in einem Eigemisch schwelgen, danach panieren.
Wenn man kein Auto hat und in der Stadt lebt, fährt man selten in den Wald. Selma war praktisch nie zu überreden, es sei denn am Ende eines Waldweges gab es ein ausgefallenes Restaurant.
Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal Pilze sammeln war. In welchem Waldabschnitt es gewesen sein mag, an welchem Sonntagnachmittag, ob meine Eltern später dazu Nudeln kochten oder Kartoffeln.
»Setz dich«, sagt er leise.
Ich gehorche und ziehe die Füße auf den Stuhl, umfasse die Knie. Jetzt kann ich bloß noch auf die Tannen schauen, nach Wolken suchen und keine finden, nur ein Flugzeug zieht am Horizont einen Kondensstreifen hinter sich her.
»Hast du eine Zigarette?«
»Wieso denn das?«
Der Missmut in seiner Stimme ist fast schon greifbar, es gefällt ihm nicht, dass ich hier so sitze, dass ich einen Platz für mich alleine habe.
Ich schaue wieder hinaus, mein Atem beschlägt die Scheibe, ich könnte etwas hineinschreiben, zum Beispiel SOS . Oder besser Im Winter , das wäre etwas, das er nicht verstehen würde, etwas, das mir alleine gehören würde.
»Weil es nichts anderes zu tun gibt«, antworte ich.
Wie er mich taxiert. Als versuchte er herauszufinden, ob ich lüge, und warum. Ich tue so, als wäre es mir doch nicht besonders wichtig, und lehne die Stirn an die Scheibe. Lasse die Zeit verstreichen, genau wie den Kondensstreifen am Himmel, wie er erst über das tiefe Blau wandert und schließlich ganz verpufft. Fußspuren verschwinden, auch am Himmel.
Ich schließe die Augen und versuche, mich an unsere Pilzsuche zu erinnern. An die Wege, die wir gingen, an die Stellen, an denen die Maronen wuchsen. An die Lichtungen, mit Moos bedeckt, an den Geruch der Kiefernnadeln. An alles Mögliche versuche ich zu denken, nur nicht an die Frage, ob ich in diesem Zimmer sterben werde.
Wie lange er das alles wohl aushalten wird? Ob er einen Plan hat oder nicht? Wie soll das weitergehen: Natan und ich in diesem Zimmer? Er auf dem Stuhl, ich auf dem Bett.
Wie lange wird die Polizei brauchen, um mich zu finden? Wie lange? Allenfalls bis zum Winter. Und dann?
Liam. Was er wohl dachte? Als ich zu unserer Verabredung einfach nicht auftauchte? Als ich nicht ans Telefon ging, mich nicht meldete. Wann wird er begreifen, dass etwas mit mir geschehen ist?
Ruhig bleiben – deine einzige Chance, Anna. Denn ich spüre: Verliere ich die Nerven, tut er es auch.
Marie – sie ist meine Hoffnung. Sie wird es der Polizei sagen, natürlich. Sie wird nachdenken und darauf kommen. Dass Natan seltsam war, dass unsere Eltern gemeinsam verunglückten. Bei so was wird man doch stutzig. Das kann doch kein Zufall sein. Und wie oft sagte ich ihr: Natan ist unheimlich, Marie.
Das musst du der Polizei sagen: Unheimlich . Sein Haus, sein Leben. Die Leere darin.
Ich halte die Augen geschlossen und versuche, seinen Anblick zu verdrängen. Doch manche Bilder lassen sich nicht vertreiben. Selbst mit geschlossenen Augen sehe ich ihn deutlich vor mir, wie er da sitzt: auf dem Stuhl, die Augen starr auf
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