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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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nicht, wie. Als wäre ihr Innerstes verschlossen, als würde man immer nur das Bild von jemandem sehen, der sie gerne sein würde.
    Er fragt sich, wie Anna sie wohl gemalt hat. Irgendwas muss sie in Marie sehen, das ihm verborgen bleibt, ansonsten wären sie kaum so eng befreundet.
    »Wir müssen zur Polizei«, sagt er endlich und schaut Marie an, wie sie mit der Serviette die Mundwinkel abtupft: mit Bedacht, als wollte sie ihren Lippenstift unberührt lassen. Warum hat sie das Zeug überhaupt aufgetragen? Und ob man sich so den Mund abputzt, auf einer Burg?
    Sie nickt, legt Messer und Gabel nebeneinander und quer über den Teller.
    »Ob das heute noch Sinn macht? Zur Polizei zu gehen, meine ich?«
    Er wundert sich über ihre Naivität. Kann sich nicht vorstellen, dass es bei den Bullen wirklich so etwas wie Wochenende gibt. Doch vielleicht hat sie recht. Es ist Sonntagnachmittag, wahrscheinlich würden sie sagen: Warten wir mal bis morgen ab.
    »Ich frag mich, was die Bullen überhaupt machen in so einer Situation. Wenn’s keinen Hinweis gibt auf ein Verbrechen.«
    »Vielleicht gibt es eins«, erklärt Marie. »Das wir nicht kennen.«
    Liam bestellt die Rechnung, will nicht mehr sprechen. Starrt stattdessen auf den Fluss, in den Abendstunden wird er milder, und man kann ihn anschauen, ohne die Augen zukneifen zu müssen.
    »Wenn das Wasser noch weiter zurückgeht«, meinte Anna letzte Woche, »dann ist das eine Oase für Archäologen. Die machen bei niedrigem Wasserstand jede Menge Funde. Schiffswracks, altes Metall, vor allem römisches.«
    »Aha. Und woher willst du das wissen?«
    »War mal mit ’nem Archäologen zusammen. Der schrieb eine Seminararbeit über römische Schiffswracks. Letzten Sommer fuhren wir gemeinsam auf dem Fluss rum. Von einem Freund hatte er ein Boot geliehen, er erklärte mir, wo man welches Schiff gefunden hatte, wo sich der römische Hafen befindet, und wo die Pfade, auf denen man die Schiffe flussaufwärts zog.«
    »Treidelpfade«, ergänzte Liam.
    »Genau. Bist ja gar nicht so blöd!«
    »Und wieso hat’s mit euch nicht geklappt?«
    »Ach, Liam … Du weißt doch, wie so was ist.«
    »Nein, weiß ich nicht. Ich nehme an, bei jedem anders?«
    »Kann sein. Aber du erzählst mir ja auch nichts.«
    Zu Hause schreibt Liam eine Krankmeldung an seinen Redakteur, will das hinter sich bringen. Möchte ihn morgen früh nicht anrufen und anlügen müssen. Was für eine Krankheit hat man im Hochsommer? Er schreibt: Erbrechen und Durchfall. Und stellt fest, dass ihm wirklich schlecht ist, auch die Kopfschmerzen ist er seit heute Morgen nicht losgeworden, wie zwei pulsierende Blutegel krallen sie sich hinter den Schläfen fest.
    Er wirft Aspirin ein und zwingt sich eine Scheibe trockenes Brot runter. Kaum hört ihn der Hund in der Küche herumwerkeln, sitzt er schon vor dem Kühlschrank und leckt sich die Schnauze.
    »Heute gibt’s nichts mehr. Hast eben für 10 Euro ’ne ganze Portion Gnocchi gefressen. Das ist teurer als jede verdammte Portion Caesar .«
    Gerne würde er seine Schwester anrufen. Ihr sagen: Der Köter ist zu teuer. Warum konntest du den auch nicht mitnehmen nach Australien? Doch jemand, der Äpfel pflückt, irgendwo in the middle of nowhere, ist schwer zu erreichen. Äpfel oder Melonen, vielleicht auch Birnen. Was wächst überhaupt in Australien? Egal, sie wollte ohnehin nur weit weg. Mal rauskommen, wie sie sagte. Sich darüber klar werden, was sie will. Als ob das in Australien besser ginge als anderswo. Pirmasens zum Beispiel. Da kann man auch in sich gehen und mit Sicherheit Äpfel pflücken. Und da hätte sie auch den Hund behalten können.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag nimmt er eine kalte Dusche, lehnt die Stirn an die Kacheln und schaut zu, wie das Wasser in einem großen Strudel im Abguss verschwindet. Wie heulen geht, hat er vergessen, deswegen lässt er das Wasser endlos laufen.
    Danach sieht er zu, wie Schattenberge wachsen, sie über die Wände kriechen, sich nach und nach zu Gebirgen auftürmen. Shadowmountains hört sich völlig bescheuert an. Angst, fällt ihm ein, ist sogar ein englisches Wort. Ängst . Er steht auf und schreibt das Wort auf einen Zettel, nimmt die Kamera vom Stativ und fotografiert ihn ab.
    Ängst , na toll. Wird durch das Fotografieren auch nicht weniger, fühlt sich noch genauso kalt an. Ist allenfalls ein Bild, das er Anna zeigen könnte. Wenn sie wieder da ist.
    Er dreht sich zu Kapitän, der eines seiner lächerlich kurzen Beine
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