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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition)
Autoren: Christina Stein
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besten kann. Sondern womit man am meisten erreichen kann. Überhaupt, was sollte ich deiner Meinung nach tun? Mich an der Kunsthochschule bewerben? Um später in irgendeiner Werbeagentur zu vergammeln?«
    »Es gibt ja noch andere Möglichkeiten«, versuchte er es und bemerkte selbst, wie lehrerhaft er klang. Fast schon wie sein Alter. Der Herr Professor hat immer recht. Der Herr Professor überträgt seinen Ehrgeiz gerne auf andere. Kein Wunder dass seine Schwester das Weite gesucht und sich eine Auszeit in Australien genommen hat. Äpfel pflücken für ein Jahr. Wird seinem Vater ganz und gar nicht gefallen.
    Liam hört Kapitän im Schlafzimmer grunzen und weiß: So hört es sich an, wenn er in irgendwas rumwühlt. Er zieht ihn aus dem Bett und schnauzt ihn an: Dämliches Viech. Hast schon wieder deine Augenklappe verloren.
    Im Zimmer findet er nichts, was auf einen fremden Menschen hinweist. Er sucht nach etwas, das Sinn ergeben würde: einer Männersocke, einer aufgerissenen Kondompackung. Unter ihrem Bett findet er Taschentücher, zerstreut liegende Bücher.
    Der Hausmeister meint, sie sollten besser gehen, der Hund würde alles durcheinandermachen. Liam streicht über das Laken, würde lieber bleiben, zwischen ihren Dingen.
    Im Flur sucht er Kapitäns Augenklappe, der Hund ist ohne sie nicht gesellschaftsfähig. Im Bad ist die Matte verrutscht, daneben wird er fündig. Zuletzt fällt sein Blick auf die Ablage über dem Waschbecken: Annas Zahnbürste liegt dort, ihr Kamm, Cremes und Tuben. Was Frauen so brauchen. Ohne diese Sachen wäre sie nicht weggefahren.
    Der Hausmeister nörgelt: Ob sie jetzt endlich könnten. Liam schaut in den Mülleimer: Keine Spur von Gummis. Wozu auch. Sie nimmt doch die Pille. Bei diesem Gedanken öffnet er den Schrank: Hier hat sie die Packung immer liegen, schluckt jeden Abend eine – die Pillen liegen dort, wo sie liegen sollten, ein Pfeil führt Tag für Tag durch den Zyklus, seit Freitagabend hat sie keine mehr genommen.
    Scheiße. Heute ist Sonntag.
    Marie sagt: »Komm, lass uns gehen.«
    Leise schließt er den Schrank und betrachtet für einen Moment sein Gesicht im Spiegel. Dort klebt noch Schlaf in den Augenwinkeln. Auch ansonsten ist sein Anblick desolat: die Haare fettig, tiefe Ränder unter den Augen. Hat er sich heute überhaupt schon die Zähne geputzt?
    Marie im Flur, wohlerzogen sagt sie »Vielen Dank« und hat wieder den albernen Hut auf. Liam schnappt sich Kapitän, legt ihm Leine und Augenklappe an. Marie berührt seinen Arm.
    »Komm, gehen wir was trinken! Gleich um die Ecke ist ein Café.«
    Draußen sind alle Tische besetzt, und sie setzen sich rein, doch Fenster und Türen stehen offen, sogar ein wenig kühler ist es hier. Liam lässt die Sonnenbrille auf; seine Augen sind lichtempfindlich, er mag sie nicht permanent zukneifen müssen.
    Sein Blick wandert hinaus auf den Fluss, wie breit sein Ufer geworden ist, braune Schlammschichten trocknen in der Sonne aus und bilden dort, wo sie schon lange frei liegen, tiefe Risse. Ein Entenpaar watschelt über eine Sandbank, läuft Zickzack zwischen verrosteten Kanistern und halb versunkenen Autoreifen.
    Minutenlang bleiben sie stumm, allein der Hund ist lebhaft und kommt immer wieder unter dem Tisch hervor, um zu schnüffeln, was die anderen Gäste auf ihren Tellern haben.
    »Er hat noch nichts gefressen«, entschuldigt Liam sich, weil er findet, dass einer mit dem Reden anfangen muss.
    »Du auch nicht, oder?«
    Er schüttelt den Kopf und betrachtet Maries Hände. An der Rechten trägt sie den Siegelring, an der Linken etwas, das ebenfalls nach teurem Stein aussieht.
    »Komm, dann bestellen wir was.«
    Wie oft sie wohl noch Komm sagt. Komm , wir klingeln. Komm , wir gehen was trinken.
    Er bestellt Gnocchi mit Gemüse und Marie Salat; kaum ist die Flasche Wasser da, ist sie schon zur Hälfte leer getrunken.
    »Anna hat ihre Pillenpackung nicht mitgenommen. Du weißt schon. Die liegt immer noch im Badezimmerschrank, zuletzt am Donnerstag genommen.«
    Marie überlegt, dreht ihr Glas in der Hand.
    »Ich versteh das nicht.«
    »Hast du wirklich keine Ahnung, wo sie sein könnte?«
    »Nein, Liam. Ehrlich.«
    Ihre braunen Augen stechen in seine, warum sollte sie es nicht so meinen.
    »Dann das Glas auf dem Küchentisch. Der Orangensaft darin war eingetrocknet, hat schon solche Ringe gebildet. Als ob sie wirklich zwei Tage nicht mehr zu Hause gewesen wäre.«
    »Lass uns doch ihren Tagesablauf am Freitag rekonstruieren. Hat sie
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