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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
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»Weil sie am gleichen Tag verschwunden ist wie die Unterlagen. Bei diesen Leuten weiß man doch Bescheid!«
»Hmm«, erwiderte ich.
»Finden Sie sie für uns, Pat?«
Ich sah aus dem Fenster. Der forsche Portier verfrachtete jemanden in ein Taxi. Im Park machte ein Pärchen mittleren Alters im Partnerlook ein Foto nach dem anderen von der George-Washington-Statue. Bestimmt, um zu Hause in Boise die Verwandten zu beeindrucken. Ein Penner auf dem Bürgersteig hielt sich mit einer Hand an seiner Flasche fest, während er die andere unbeweglich ausgestreckt hielt und auf Kleingeld wartete. Schöne Frauen gingen vorbei. Scharenweise.
»Ich bin teuer«, warf ich ein.
»Weiß ich«, erwiderte Mulkern. »Warum wohnen Sie dann immer noch im alten Viertel?« Er sagte es so, als sollte ich glauben, er gehöre mit dem Herzen auch noch dorthin, als bedeute es ihm etwas und sei nicht nur eine Ausweichroute, wenn die Schnellstraße verstopft ist.
Ich suchte krampfhaft nach einer Antwort. Eine, die mit den eigenen Wurzeln, mit der Herkunft zu tun hat. Schließlich sagte ich ihm die Wahrheit: »Meine Wohnung unterliegt der Mietpreisbindung.«
Das schien ihm zu gefallen.

2_____
    Das alte Viertel ist die Gegend um den Edward Everett Square in Dorchester. Es ist weniger als fünf Meilen vom Bostoner Stadtzentrum entfernt, das heißt, an guten Tagen schafft man es mit dem Auto in einer halben Stunde.
    Mein Büro befindet sich im Glockenturm der St.Bartholomew’s-Kirche. Ich habe nie herausbekommen, was mit der Glocke passiert ist, die mal da hing, und die Nonnen, die nebenan in der Pfarrschule unterrichten, wollen es mir nicht sagen. Die älteren beantworten meine Fragen generell nicht, und die jüngeren finden meine Neugier amüsant. Schwester Helen sagte mir einmal, sie sei »weggewundert« worden. Das waren ihre Worte. Schwester Joyce, die so alt ist wie ich, sagt immer, sie sei »verlegt« worden, und lächelt mich dabei auf eine so verruchte Art an, wie man es bei Nonnen nie für möglich gehalten hätte. Ich bin ein Detektiv, aber Nonnen können so mauern, daß selbst Sam Spade im Irrenhaus landen würde.
    Am Tag nachdem ich meinen Zulassungsschein als Detektiv bekommen hatte, fragte mich der Pfarrer, Vater Drummond, ob ich nicht Lust hätte, auf die Kirche aufzupassen. Immer wieder waren Ungläubige eingebrochen, um Kelche und Kerzenleuchter zu stehlen; Pfarrer Drummond meinte dazu: »Dieser Scheiß hört jetzt besser auf.« Mein allererster Fall. Er bot mir täglich drei Mahlzeiten im Pfarrhaus an sowie den Dank Gottes, wenn ich mich in den Glockenturm setzte, um auf den nächsten Einbruch zu warten. Ich sagte ihm, ich sei nicht so billig zu haben, und verlangte, den Turm benutzen zu dürfen, bis ich ein eigenes Büro gefunden hätte. Für einen Priester gab er ziemlich schnell nach. Als ich sah, in welchem Zustand der Raum war (seit neun Jahren ungenutzt), kannte ich auch den Grund.
    Es gelang Angie und mir, zwei Schreibtische reinzustellen. Und zwei Stühle. Als wir merkten, daß kein Platz für einen Aktenschrank vorhanden war, karrte ich die ganzen alten Ordner in meine Wohnung. Wir gaben Unsummen für einen Computer aus, speicherten soviel wie möglich auf Disketten und verstauten einige aktuelle Ordner in den Schreibtischen. Beeindruckt die Klienten fast so, daß sie vergessen, wo sie sich befinden. Fast.
    Angie saß hinter ihrem Schreibtisch, als ich die oberste Treppenstufe erreichte. Sie war damit beschäftigt, die neuesten Leserbriefe an Ann Landers zu studieren, deshalb trat ich leise ein. Zuerst bemerkte sie mich nicht - Ann mußte es mit einem wirklich schweren Fall zu tun haben -, deshalb hatte ich Gelegenheit, sie in einem seltenen Moment der Ruhe zu beobachten.
    Sie hatte die Füße auf den Tisch gelegt, die in schwarzen Peter-Pan-Wildlederstiefeln steckten, den Saum ihrer schwarzen Jeans hatte sie in die Schuhe gestopft. Mein Blick folgte ihren langen Beinen, bis er auf ein weites, weißes Baumwoll-T-Shirt traf. Der Rest von ihr war hinter einer Zeitung versteckt, man konnte nur ein bißchen von ihrem dicken, kräftigen Haar sehen, das die Farbe regennassen Teers besaß und ihr auf die olivbraunen Arme fiel. Hinter der Zeitung befand sich ein schlanker Hals, der bebte, wenn sie das Lachen über meine Witze unterdrücken wollte, ein energisches Kinn mit einem fast unsichtbaren braunen Schönheitsfleck links, eine aristokratische Nase, die überhaupt nicht zu ihrem Charakter paßte, und zwei Augen, die die Farbe
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