Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
inexistent - sind in meiner Generation völlig normal, und ich kenne heute viel weniger von meinen Nachbarn als früher. Aber immer noch bekommen wir die von den Gewerkschaften kontrollierten Jobs, kennen einen Abgeordneten, der uns in den Staatsdienst schleusen kann. In einem gewissen Ausmaß haben wir Beziehungen.
    Jenna Angelines Dorchester ist arm. Die Häuserblocks werden meistens von öffentlichen Grünanlagen und Gemeinschaftszentren beherrscht, um die herum sie gebaut wurden. Die Männer sind Hafenarbeiter, Krankenpfleger, manchmal Postangestellte, einige sind Feuerwehrleute. Die Frauen sind Krankenpflegerinnen, Kassiererinnen, Putzfrauen, Kaufhausangestellte. Sie sind auch Krankenschwestern, Polizisten und Beamte, aber wenn sie diesen Gipfel erreicht haben, sind die Chancen nicht groß, daß sie in Dorchester bleiben. Dann ziehen sie nach Dedham, Framingham oder Brockton.
    In meinem Dorchester bleibt man wegen der Gemeinschaft und der Tradition, weil man sich eine nette, wenn auch etwas ärmliche Existenz aufgebaut hat, wo sich selten etwas verändert. Ein Kuhdorf.
    In Jenna Angelines Dorchester bleibt man, weil man keine andere Wahl hat.
Nirgends ist es schwieriger, die Unterschiede zwischen den beiden Dorchester (zwischen Weiß-Dorchester und SchwarzDorchester) zu erklären, als in Weiß-Dorchester. Das gilt besonders für meine Gegend, da unser Häuserblock an das schwarze Gebiet grenzt. Sobald man den Edward Everett Square in Richtung Süden, Osten oder Westen überquert, ist man in Schwarz-Dorchester. Deshalb haben die Menschen hier enorme Schwierigkeiten, irgendwelche anderen Unterschiede als die Hautfarbe zu erkennen. Ein Typ, mit dem ich aufgewachsen bin, drückte das einmal so deutlich aus, wie ich es seitdem nicht mehr gehört habe: »Hey, Patrick«, sagte er, »ich komme aus einer armen Familie. Mir hat nie einer irgendwas gegeben. Mein Alter ist abgehauen, als ich noch klein war, so wie die ganzen Nigger in Bury. Mich hat keiner aufgefordert, lesen zu lernen, eine Arbeit anzunehmen oder etwas zu werden. Mir hat auch keiner mit Minderheitenschutzprogrammen geholfen, das steht schon mal fest. Und trotzdem habe ich keine Uzi in die Hand genommen, bin ich nicht Mitglied einer Gang geworden und habe nicht angefangen, Leute zu überfallen. Also erzähl mir keine Scheiße. Es gibt keine Entschuldigung dafür.«
In Weiß-Dorchester nennt man Schwarz-Dorchester nur »Bury«. Das ist die Abkürzung für Roxbury, einen Stadtteil von Boston, der da beginnt, wo Schwarz-Dorchester aufhört und wo in einer Woche bis zu acht tote schwarze Jugendliche in Leichenwagen geladen werden. Schwarz-Dorchester läßt seine Jugend auch ziemlich regelmäßig vor die Hunde gehen, und die in Weiß-Dorchester sehen nicht ein, warum sie die Gegend nicht Bury nennen sollen. Es hat einfach jemand vergessen, das auf den Straßenkarten zu ändern.
Doch ein bißchen Wahrheit steckt schon in dem, was mein Freund sagte, wenn auch nur ein bißchen, und das macht mir angst. Wenn ich durch meine Gegend fahre, sehe ich arme Leute, aber ich sehe keine Armut.
Als ich durch Jennas Gegend fuhr, sah ich eine ganze Menge Armut. Ich sah eine schwer verwundete und vernarbte Gegend mit vielen zugenagelten Schaufenstern, ich sah einen Laden, der noch nicht vernagelt, aber trotzdem geschlossen war. Die Fensterscheibe war kaputt, Einschußlöcher verschandelten die Wände wie eine tödliche Form von Akne. Innen war er verrußt und ausgebrannt, und das Fiberglasschild über dem Laden, auf dem einmal in vietnamesisch »Delikatessen« gestanden hatte, war zerbrochen. Delikatessen liefen in dieser Gegend nicht mehr so gut, Crack dafür um so besser.
Ich bog von der Blue Hill Avenue ab und fuhr einen zerfurchten Hügel hinauf, der aussah, als sei er seit Kennedys Zeiten nicht mehr gepflastert worden. Blutrot ging die Sonne unter, hinter einem mit Unkraut überwachsenen Platz oben auf dem Hügel. Eine Gruppe wortkarger schwarzer Kinder überquerte vor mir die Straße und ließ sich, Blicke in mein Auto werfend, Zeit dabei. Es waren vier, und einer hielt einen Besenstiel in der Hand. Er drehte sich um und sah mich noch mal an, dann schlug er den Besen mit einem lauten Knall auf die Straße. Einer seiner Kumpel, der einen Tennisball auf und ab hüpfen ließ, lachte und drohte meiner Windschutzscheibe mit erhobenem Finger. Die Gruppe überquerte den Bürgersteig und schlug einen braunen, schmutzigen Fußweg zwischen zwei dreistöckigen Gebäuden ein. Ich fuhr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher