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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
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geöffneter Handfläche in meine Richtung.
Ich nickte.
»Aha. Keine falsche Bescheidenheit?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Das ist mein Job. Darin sollte ich gut sein.« Ich nippte an meinem Bier, der bittersüße Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, noch zu rauchen.
»Tja, Junge, das Problem ist folgendes: Nächste Woche kommt eine ziemlich wichtige Gesetzesvorlage zur Abstimmung. Wir haben schwere Munition aufgefahren, aber gewisse Mittel und Wege, die wir in Anspruch genommen haben, um diese Munition zu erhalten, könnten… mißdeutet werden.«
»Zum Beispiel?«
Mulkern nickte und grinste, als hätte ich »Bravo!« gerufen. »Mißdeutet«, wiederholte er.
Ich entschied mich mitzuspielen. »Und gibt es Unterlagen, Dokumente über diese Mittel und Wege?«
»Er lernt schnell«, sagte er zu Jim und Paulson. »O ja, schnell.« Dann blickte er mich an. »Unterlagen«, wiederholte er, »genau die gibt es, Pat.«
Ich fragte mich, ob ich ihm sagen sollte, wie sehr ich es haßte, Pat genannt zu werden. Vielleicht sollte ich ihn ab jetzt einfach Sterl nennen, mal sehen, wie ihm das gefiel. Ich nippte an meinem Bier. »Senator, ich finde Menschen, keine Sachen.«
»Vielleicht darf ich einwerfen«, warf Jim ein, »daß sich diese Unterlagen bei einer Person befinden, die seit kurzem verschwunden ist. Eine…«
»Ehemals zuverlässige Angestellte des State House«, erklärte Mulkern. Im Ton verbindlich, in der Sache knallhart - er hatte diese Nummer bis zur Perfektion verinnerlicht. Nichts an seinem Benehmen, seinen Formulierungen, seiner Körperhaltung wies auf einen Tadel hin, doch Jim sah aus, als sei er dabei erwischt worden, wie er eine Katze mißhandelte. Er nahm einen großen Schluck von seinem Scotch und klapperte mit den Eiswürfeln gegen den Rand. Ich bezweifelte, daß er jemals wieder etwas einwerfen würde.
Mulkern sah Paulson an, der wiederum griff in seinen Aktenkoffer. Er zog ein dünnes Bündel Papier heraus und händigte es mir aus.
Das oberste Blatt war ein Foto, ein ziemlich grobkörniges. Die Vergrößerung eines Arbeitsausweises für das State House, das Parlament des Bundesstaates. Darauf war eine dunkelhäutige Frau mittleren Alters mit müden Augen und einem gelangweilten Gesichtsausdruck zu sehen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und verzogen, so als wolle sie gerade ihre Ungeduld mit dem Fotografen kundtun. Ich blätterte um und blickte in der Mitte eines weißen Blattes auf die Kopie ihres Führerscheins. Sie hieß Jenna Angeline. Sie war einundvierzig Jahre alt, sah aber aus wie fünfzig. Sie hatte einen Führerschein dritter Klasse, ohne Beschränkungen, ausgestellt in Massachusetts. Ihre Augen waren braun, sie war ein Meter fünfundsechzig groß. Die Anschrift lautete:
412 Kenneth Street in Dorchester. Ihre Sozialversicherungsnummer war 042-51-6543.
Ich blickte die drei Politiker an und merkte, daß meine Augen von dem mittleren Augenpaar angezogen wurden, von Mulkerns starrem Blick. »Und?« fragte ich.
»Jenna war Putzfrau in meinem Büro. Bei Brian auch.« Er zuckte mit den Achseln. »Eigentlich hatten wir wenig Probleme mit ihr, für eine Negerin.«
Mulkern war die Sorte von Mensch, die »Neger« sagte, wenn sie sich ihres Umfelds nicht sicher genug war, um »Nigger« zu sagen.
»Bis…«, ergänzte ich.
»Bis sie vor neun Tagen verschwand.«
»Nicht genehmigter Urlaub?«
Mulkern sah mich an, als hätte ich gerade behauptet, beim Basketball an den Universitäten gäbe es keine Schiebereien. »Als sie ihren ›Urlaub‹ nahm, Pat, hat sie diese Unterlagen ebenfalls mitgenommen.«
»Vielleicht als leichte Lektüre für den Strand?« versuchte ich es.
Paulson schlug mit der Hand auf den Tisch. Laut. Paulson. »Das ist kein Witz, Kenzie. Verstanden?«
Mit müden Augen blickte ich auf seine Hand.
Mulkern mahnte: »Brian.«
Paulson zog die Hand zurück, um den Handrücken nach Peitschenstriemen abzusuchen.
Ich starrte ihn noch immer mit müden Augen an - tote Augen nennt Angie die -, und wandte mich an Mulkern: »Woher wissen Sie, daß sie die… Unterlagen gestohlen hat?«
Paulson wich meinem Blick aus und betrachtete lieber seinen Martini. Er hatte ihn noch immer nicht angerührt. Wahrscheinlich wartete er auf Erlaubnis.
Mulkern antwortete: »Wir haben es überprüft. Glauben Sie mir. Logisch gesehen, ist sie die einzig Verdächtige.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum ist sie logisch gesehen eine Verdächtige?«
Mulkern lächelte. Schwach.
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