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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition)
Autoren: John Williams
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er etwas zu sagen hatte.
    Was hast du denn erwartet?, dachte er.
    Etwas drückte schwer auf seine Lider. Er spürte, wie sie zitterten, dann gelang es ihm, sie zu öffnen. Es war das Licht, das er gefühlt hatte, das helle Sonnenlicht des Nachmittags. Er blinzelte und betrachtete gleichmütig den blauen Himmel, den leuchtenden Rand der Sonne, den er durchs Fenster schimmern sah. Er entschied, dass dies nicht real war, und bewegte eine Hand. Mit der Bewegung spürte er, wie ihn eine seltsame Kraft durchströmte, die aus der Luft zu ihm zu kommen schien. Er atmete tief ein; da war kein Schmerz.
    Mit jedem Atemzug schien diese Kraft zu wachsen; seine Haut kribbelte; er konnte auf seinem Gesicht das hauchzarte Gewicht von Licht und Schatten fühlen. Er richtete sich auf, bis er halb saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, an der sein Bett stand. Nun konnte er nach draußen sehen.
    Er spürte, dass er aus langem Schlaf erwachte, und fühlte sich erholt. Es war Ende Frühling oder Anfang Sommer – eher Anfang Sommer nach dem zu urteilen, was er sah. Auf den Blättern der großen Ulme in seinem Hof lag ein satter Schimmer, und der Schatten, den der Baum warf, war von einer frischen Kühle, wie er sie schon einmal gespürt hatte. Eine Dichte lag in der Luft, eine Schwere, die sich über die süßen Düfte von Rasen, Blatt und Blume legte, sie mischte und in der Schwebe hielt. Wieder atmete er tief ein, hörte das Rasseln und spürte, wie sich die Süße des Sommers in seinen Lungen sammelte.
    Und ebenso spürte er mit diesem Atemzug, wie sich tief in ihm etwas verschob, eine Verlagerung, die etwas anhielt und seinen Kopf fixierte, weshalb er ihn nicht bewegen konnte. Dann ging es vorbei, und er dachte: So ist das also.
    Ihm kam der Gedanke, dass er Edith rufen sollte, wusste aber, dass er sie nicht rufen würde. Die Sterbenden sind egoistisch, dachte er, wie Kinder. Sie wollen ihre Zeit für sich.
    Erneut holte er Luft, doch war da jetzt etwas in ihm anders, etwas, das er nicht benennen konnte. Er spürte, dass er auf etwas wartete, auf eine Einsicht, nur schien er alle Zeit der Welt zu haben.
    Er hörte fernes Lachen und wandte den Kopf. Eine Gruppe Studenten überquerte den Rasen auf dem Hinterhof, eilte irgendwo hin. Es waren drei Paare, er sah sie deutlich, die Mädchen langbeinig und anmutig in ihren leichten Sommerkleidern, und die Jungen beäugten sie mit freudigem, verwirrtem Staunen. Sie liefen leichten Schrittes über das Gras, berührten es kaum, hinterließen keine Spuren. Er sah ihnen nach, bis sie verschwanden, dorthin gingen, wo er ihnen mit seinen Blicken nicht mehr folgen konnte, und noch lange, nachdem sie verschwunden waren, hörte er den Klang ihres Lachens von weit her herüberdringen, ahnungslos in der Stille des Sommernachmittags.
    Was hast du denn erwartet?, dachte er wieder.
    Eine Art Freude überkam ihn, kam wie auf einer Sommerbrise. Undeutlich erinnerte er sich, ans Scheitern gedacht zu haben – als wäre das wichtig. Jetzt fand er solche Gedanken kleinlich, fand sie unwürdig angesichts dessen, was sein Leben gewesen war. Undeutliche Gestalten sammelten sich am Rand seines Bewusstseins; er konnte sie nicht sehen, wusste aber, dass sie dort waren, dass sie ihre Kräfte für eineArt Fassbarkeit sammelten, die er weder sehen noch hören konnte. Er näherte sich ihnen, das wusste er, doch bestand kein Grund zur Eile. Wenn er wollte, konnte er sie ignorieren; er hatte alle Zeit der Welt.
    Eine Sanftheit umgab ihn, eine Mattigkeit legte sich auf seine Glieder, und ein Gefühl der eigenen Identität überkam ihn mit plötzlicher Kraft; er fühlte seine Macht. Er war er selbst, und er wusste, was er gewesen war.
    Er wandte den Kopf. Auf seinem Nachtschränkchen stapelten sich Bücher, die er schon lange nicht mehr angerührt hatte. Einen Moment lang ließ er die Hand darüber wandern, staunte über seine mageren Finger und bewunderte die diffizile Verbindung ihrer Gelenke, als er die Finger krümmte. Er fühlte, welche Kraft sie besaßen, und ließ sie einen Band aus dem Durcheinander ziehen. Es war sein eigenes Buch, das er suchte, und als er es in Händen hielt, lächelte er angesichts des vertrauten roten Einbandes, der seit so vielen Jahren schon verblasst und abgegriffen war.
    Es kam kaum mehr darauf an, dass das Buch vergessen war und keinem Zweck mehr diente, und die Frage, was es zu irgendeiner Zeit genützt haben mochte, schien ihm beinahe trivial. Er hing auch nicht der Illusion an, dass
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