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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition)
Autoren: John Williams
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schließlich kaum der Rede wert, wenn es ihnen half, sie von all dem Wissen abzulenken, dem sie sich irgendwann doch zu stellen hatten.
    Er wusste, nach und nach würde das kleine Zimmer, in dem er nun lag und aus dem Fenster sah, seine ganze Welt werden; schon jetzt konnte er undeutlich einen ersten Schmerz fühlen, der sich wie ein alter Freund aus großer Ferne zurückmeldete. Und Stoner bezweifelte, dass man ihn auffordern würde, wieder ins Krankenhaus zu kommen; er hatte an diesem Nachmittag eine gewisse Endgültigkeit aus Jamisons Stimme herausgehört; außerdem hatte der Arzt ihm ein paar Tabletten für den Fall mitgegeben, dass er ein ›Unbehagen‹ verspüren sollte.
    »Du könntest Grace schreiben«, hörte er sich zu Edith sagen. »Sie hat uns schon lange nicht mehr besucht.«
    Als er sich umwandte, sah er, wie Edith gedankenverloren nickte; ihr Blick war seinem gefolgt, und sie hatte ruhig aus dem Fenster in die zunehmende Dunkelheit geschaut.
    Er fühlte, wie er während der nächsten Wochen schwächer wurde, langsam erst, dann schneller. Der Schmerz kehrte mit einer Heftigkeit zurück, die er nicht erwartet hatte;also nahm er seine Tabletten und spürte, dass der Schmerz sich wieder ins Dunkel zurückzog wie ein scheues Tier.
    Grace kam, und er merkte, wie wenig sie einander trotz allem zu sagen hatten. Sie war eine Weile nicht in St. Louis gewesen und hatte erst tags zuvor bei ihrer Rückkehr Ediths Brief vorgefunden. Grace sah mitgenommen und angespannt aus, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, und Stoner wünschte sich, er könnte irgendwie ihren Kummer lindern, wusste aber, dass dies nicht in seiner Macht stand.
    »Du siehst gut aus, Daddy«, sagte sie. »Richtig gut. Bestimmt bist du bald wieder auf dem Damm.«
    »Natürlich«, antwortete er und lächelte sie an. »Wie geht’s dem kleinen Ed? Und wie ist es dir ergangen?«
    Sie sagte, dass es ihr gut gehe und dass es dem jungen Ed gut gehe, dass er nächsten Herbst auf die Junior-Highschool komme. Er sah sie verwirrt an. »Junior High?«, fragte er und begriff dann, dass es stimmen musste. »Natürlich«, sagte er, »ich habe ganz vergessen, wie groß er schon ist.«
    »Er lebt meist bei seinen – bei Mr und Mrs Frye«, sagte sie. »So ist es für ihn am besten.« Sie sagte noch etwas, doch schweifte er ab. Immer häufiger fand er es schwierig, sich zu konzentrieren, und er wusste nie, wohin seine Gedanken wanderten; manchmal hörte er sich Worte sprechen und wusste nicht, woher sie kamen.
    »Armer Daddy«, sagte Grace, und das brachte ihn in die Gegenwart zurück. »Armer Daddy, das Leben war für dich nicht einfach, oder?«
    Einen Moment dachte er nach und erwiderte dann: »Nein, aber ich glaube, das hätte ich auch nicht gewollt.«
    »Mama und ich – wir beide waren bestimmt eine Enttäuschung für dich, nicht?«
    Er hob eine Hand, als versuchte er, sie zu berühren. »Oh, nein«, sagte er mit matter Inbrunst. »Du darfst nicht …« Er wollte mehr sagen, wollte erklären, konnte aber nicht weitersprechen. Er schloss die Augen und spürte, wie sich sein Geist befreite. Bilder strömten auf ihn ein und wandelten sich wie auf einer Leinwand. Er sah Edith, wie sie an jenem ersten Abend im Haus der Claremonts gewesen war – das blaue Kleid, die schlanken Finger, das blasse, zarte, sanft lächelnde Gesicht und die hellen Augen, die jedem Moment so freudig entgegensahen, als berge er eine süße Überraschung. »Deine Mutter …«, sagte er. »Sie war nicht immer …« Sie war nicht immer, wie sie gewesen ist; und er fand jetzt, dass er in der Frau, die sie geworden war, das Mädchen sehen konnte, das sie einmal gewesen war, fand, er hatte es schon immer sehen können.
    »Du warst ein schönes Kind«, hörte er sich sagen und wusste einen Moment lang nicht, zu wem er redete. Licht schwamm vor seinen Augen, nahm Form an und wurde zum Gesicht seiner Tochter, von Falten gezeichnet, ernst, sorgenvoll. Wieder schloss er die Augen. »Im Arbeitszimmer. Erinnerst du dich? Du hast bei mir gesessen, während ich gearbeitet habe. Du warst so still, und das Licht … das Licht …« Das Licht der Schreibtischlampe (er konnte es jetzt sehen) fiel auf ihr aufmerksames kleines Gesicht, das sich in kindlichem Eifer über ein Buch oder Bild beugte, sodass sich die zarte Haut hell vor den Schatten des Zimmers abhob. »Natürlich«, sagte er und sah auf das heutige Gesicht des Kindes. »Natürlich«, sagte er noch einmal, »warst du immer da.«
    »Ruhig
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