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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten
Autoren: Tom Knox
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    D ie Höhle war feucht. Und dunkel. Unangenehm dunkel. Draußen schien die letzte Herbstsonne über die Cevennen, aber sobald Julia auf der Metallleiter in die Höhle der Schwellung hinabzusteigen begann, wurde sie von klammem Dunkel umschlossen – eingesogen. Verschluckt.
    Warum graute ihr vor jedem Abstieg von neuem? Eigentlich hätte sie sich längst daran gewöhnt haben müssen. Sie machte das jetzt schon den ganzen Sommer lang: ihrer Arbeit nachgehen und in dem feuchtkalten Kalksteinhöhlennetz unter der Cham des Bondons wühlen und graben. Doch der Einstieg in den Arbeitstag fiel ihr immer noch kein bisschen leichter.
    Sie hob die Hand, knipste die Lampe an ihrem Schutzhelm an und bückte sich in deren schwachen Schein zu ihrer Werkzeugtasche hinab, die sie am Vortag auf dem feuchten Höhlenboden zurückgelassen hatte. Sie kniete nieder, schlug die Plastikumhüllung zurück und breitete ihr Arbeitsgerät aus: Kellen und Schutzbrille, Bürsten und Lote. Die Werkzeugtasche war ein Geschenk ihrer Eltern in Michigan.
    Der Wind blies flötend über die Höhlenöffnung wie ein Kind über einen Flaschenhals. Das vom Hall verstärkte Geräusch hatte etwas Unheimliches. Julia nahm die Werkzeugtasche und tastete sich langsam in den hinteren Teil der Höhle vor. Trotz der weichen Neopren-Knieschoner schmerzte ihr Schienbein empfindlich, als sie es sich an einem Felsen stieß. Nach wenigen Minuten erreichte sie eine Stelle, an der die Kalksteindecke kaum einen Meter hoch war. Ihr Grabungsbereich. Er hatte nichts Einladendes.
    Normalerweise arbeitete sie zusammen mit ihren Kollegen Kanya, Alex und Annika hier unten in der Höhle der Schwellung. Aber in den letzten Tagen war ihre kleine Truppe empfindlich geschrumpft. Kanya hatte die Grabungssaison eine Woche vor dem offiziellen Termin beendet und war nach Kalifornien zurückgekehrt. Alex arbeitete mit dem Rest des Teams in einer anderen Höhle des Plateaus. Und Annika, ihre gute Freundin Annika, lag in ihrem kleinen Häuschen in dem verlassenen Dorf Vayssière mit einer Erkältung danieder.
    Sie war die Einzige, die hier noch richtige archäologische Arbeit leistete, dachte Julie, als sie den Strahl ihrer LED-Stirnlampe justierte. Doch sie hatte nur noch eine Woche Zeit, um das Beste aus der enttäuschenden Grabungssaison zu machen. Noch eine Woche, um etwas zu finden und so ihr Forschungssemester und den zeitlichen und finanziellen Aufwand zu rechtfertigen, den sie hier, im entlegensten und einsamsten Teil Südfrankreichs, im Departement Lozère, betrieb.
    Eine Woche noch bis zum Ende der Grabungssaison.
    Und was dann?
    Die Aussicht auf einen Winter in London und viele nachfolgende Winter, in denen sie gelangweilte Achtzehnjährige unterrichten müsste, war wenig aufbauend. Julia riss sich von ihren Gedanken los und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
    Tu es einfach.
    Selbst wenn sie nichts anderes mehr finden würde als Fragmente eines zerbrochenen Knochenstifts, war ihr dennoch bewusst, dass sie von Glück reden konnte, überhaupt hier sein zu dürfen. Der metronomische Rhythmus ihres fachgerechten archäologischen Vorgehens übte schließlich seine beruhigende Wirkung auf sie aus: Bürste, Kelle und Sieb; Kelle, Pinzette und Sieb. Das metallische Klirren ihres Werkzeugs hallte durch die leere Höhle.
    Sie versuchte auszublenden, dass sie ganz allein war. Und wenn nun plötzlich irgendein verrückter Hirte hier unten auftauchte und sie vergewaltigte? In der Speläologie konnte einen niemand schreien hören. Sie musste über ihre Ängste lächeln. Sollte es nur einer versuchen. Sie würde den Kerl mit ihrem fünfzehn Zentimeter langen Vermessungspflock aufschlitzen.
    Eine weitere Stunde verrann im Nu. Sie ging ganz in ihrer Tätigkeit auf und war jetzt dabei, den trockeneren Staub am Ende der Höhle zu durchsuchen. Mit der Kelle aufnehmen und sieben. Mit der Kelle aufnehmen und sieben.
    Sie bürstete und griff wieder zur Kelle. Dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. Ihr Herz begann heftig zu schlagen.
    Ein Auge starrte ihr entgegen.
    Fast ließ sie die Bürste fallen.
    In der schwarzen Erde zeichnete sich eine unverkennbare Rundung aus weißem Knochen ab, wie eine Mondsichel in einer dunklen Nacht.
    Eine Augenhöhle. In einem menschlichen Schädel?
    Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Julia ihren Fund. Ihr Puls ging immer schneller. Es war ein menschlicher Schädel.
    Wie alt war das Cranium? Vielleicht war es nur ein Ziegenhirte aus dem
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