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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten
Autoren: Tom Knox
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strahlte eine unterschwellige innere Unruhe aus, gepaart mit wilder Entschlossenheit. Intelligenz und Nervosität. Sie war vermutlich Ende zwanzig. Jake kannte sie nur flüchtig: von hitzigen Diskussionen über die Korruption in Kambodscha und die Vertreibung der Landbevölkerung und journalistische Machtspielchen. Das war in Phnom Penh gewesen, auf der Dachterrasse des Foreign Correspondents’ Club, von der man einen herrlichen Blick auf die lärmenden Boulevards der Stadt und den breiten, trägen Tonle Sap hatte.
    »Sie sind doch Journalist? Und Sie sind mit den politischen Verhältnissen in Kambodscha vertraut?«
    Jake blieb der damit einhergehende Seitenhieb nicht verborgen.
    »Na ja, ein bisschen zumindest. Aber …«
    »Die kambodschanische Regierung steht unter enormem Druck …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »… Wiedergutmachung zu betreiben. Die Rote-Khmer-Führung vor Gericht zu stellen und endlich aufzuklären, was in den siebziger Jahren passiert ist. Damals, als so unfassbar viele menschen umgekommen sind. Das wissen Sie doch sicher?«
    »Natürlich. Während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer … obwohl, ich bin nicht sicher, wie viele Menschen ihr nun tatsächlich zum Opfer gefallen sind. Es gibt da sehr unterschiedliche Meinungen.«
    »Ein Viertel der gesamten Bevölkerung.« Die melodische, fast einschmeichelnde Stimme, mit der Chemda das ruhig, aber bestimmt konstatierte, machte ihre Feststellung nur noch ungeheuerlicher. »Die Roten Khmer haben durch Hunger und Massenmord ein Viertel meines Volks ausgelöscht. Zwei millionen Tote.«
    Darauf folgte erst einmal ein strafendes Schweigen. Jake schaute betreten aus dem Fenster des Pick-ups. Inzwischen waren sie hoch oben in den dunstverhangenen Hügeln von Zentral-Laos und hatten fünfzehn Stunden Fahrt auf den schlechtesten Straßen hinter sich, auf denen er je unterwegs gewesen war; er verstand jetzt, warum sich Tyrone geweigert hatte, mitzukommen; und er verstand, warum sie schon vor Tagesanbruch aufgebrochen waren, um die Strecke an einem Tag zu schaffen.
    Auf der Landkarte betrug die Entfernung nur ein paar hundert Kilometer, und theoretisch handelte es sich hier um die laotische Hauptverkehrsader, aber wenn die Straße nicht von tiefen Schlaglöchern übersät war, war sie überschwemmt oder einfach blockiert; Hunde, Ziegen, Hühner und Rinder bevölkerten den Asphalt, Kinder spielten wenige Zentimeter neben vorbeirumpelnden Lkws. Mehrere Male waren sie wegen liegengebliebener Lkws aufgehalten worden oder wegen unterspülter Straßenabschnitte, wo sie große flache Steine unter die im Schlamm durchdrehenden Reifen hatten legen müssen.
    Jetzt kamen sie ins Gebirge, in die Annamitische Kordillere, und die Luft wurde feucht, sogar kalt; das waren nicht die Tropen, wie Jake sie kannte, nicht Luang oder Vang Vieng, geschweige denn Phnom Penh. Nebel verhüllte die Schlingpflanzen und Bananenstauden, Hochzeitsschleier aus Dunst, Kilometer freudlosen Flors.
    Von dunklen Nebelfetzen begleitet, brach rasch die Nacht herein. Immer wieder wurden sie von den Schlaglöchern durchgeschüttelt.
    Den schwerverletzten kambodschanischen Professor hatten sie im Krankenhaus von Vang Vieng zurückgelassen. Als Jake und Chemda sich am Abend zuvor dort getroffen hatten, war sie hocherfreut gewesen, dass er bereit war, sie zu begleiten und einen Artikel über ihre Mission zu schreiben. Die Weltöffentlichkeit solle endlich das volle Ausmaß der Gräuel der Roten Khmer erfahren, hatte sie ihm erklärt; das sei ihre Hauptaufgabe als Pressesprecherin und Anwältin der Außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha, des sogenannten Rote-Khmer-Tribunals. Bisher habe sie es jedoch nur auf die Veröffentlichung einiger weniger Artikel auf ein paar zweitrangigen asiatischen Websites gebracht. Vielleicht könne Jake da mehr bewegen; er habe gute Beziehungen. Sie setze große Hoffnungen in ihn.
    Doch jetzt schien sie enttäuscht über Jakes mangelhafte Kenntnisse über die jüngste kambodschanische Geschichte. Und Jake wusste nicht, was er dagegen tun könnte. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, denn er war sich sehr deutlich des ärgerlichen Missverhältnisses bewusst, das zwischen ihnen bestand. Obwohl er älter war als sie, lag die Verantwortung in erster Linie in ihren Händen. Chemda war diejenige, die das entsprechende Wissen, die erforderliche Motivation und die offizielle Autorisierung hatte. Und ihr Eifer war selbst noch dem scharfen
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