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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten
Autoren: Tom Knox
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ausfindig gemacht. Wir haben sie gebeten, uns zu begleiten und uns zu zeigen, wo sie damals gesucht haben. Das alles geschieht im Zuge der Bemühungen seitens der Vereinten Nationen … die, äh, Wahrheit ans Licht zu bringen. Trotzdem wollten die beiden zuerst nicht mitmachen.«
    »Und wie konntet ihr sie schließlich umstimmen?«
    »Die kambodschanische Regierung hat ihnen einfach den Befehl erteilt, uns zu helfen. Sie hatten keine Wahl. Aber sie müssen uns natürlich nichts sagen, wir können sie nicht zwingen, die Wahrheit zu erzählen. Tja. Und jetzt liegt einer im Krankenhaus, und es ist nur noch Doktor Samnang übrig. Er macht keinen sehr glücklichen Eindruck. Manchmal frage ich mich …« Sie seufzte. »Manchmal frage ich mich, ob es richtig ist, diese alten Männer zu zwingen, uns dabei zu helfen, die Schrecken der Vergangenheit aufzudecken. Aber das ist mein Job.« In ihre weichen Khmer-Vokale war wieder die gewohnte Entschlossenheit zurückgekehrt, und ihr Englisch hatte nur einen ganz leichten Akzent. Ihr Blick war sehr eindringlich, als sie Jake in die Augen sah.
    »Und dann habe ich auch noch ein sehr starkes persönliches Interesse an der Sache.«
    »Ja?«
    »Meine Großmutter ist hier ums Leben gekommen.«
    Jake sagte nichts. Chemdas Gesicht hatte im Zwielicht etwas Unergründliches.
    »Ich glaube, sie ist hier oben gestorben. Auf der Ebene der Tonkrüge. Sie gehörte zu den Wissenschaftlern, die von den Roten Khmer hierher gebracht wurden.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich habe in Los Angeles eine kambodschanische Freundin, deren Vater ebenfalls hierhergeschickt wurde. Und er sagt, meine Großmutter wäre damals dabei gewesen; sie hätte zu der Expedition gehört. Meine Großmutter war ziemlich bekannt; meine ganze Familie ist ziemlich bekannt. Meine Großmutter war Anthropologin, und wir wissen, dass sie etwa um diese Zeit verschwunden ist. Und wir wissen auch, dass es Gerüchte gibt, dass sie hier war. Aber niemand will mit der Wahrheit herausrücken. Vielleicht auch nur deshalb, weil niemand die Wahrheit kennt.«
    Chemdas Worte waren wie eine Litanei, leise und ehrfürchtig, ein im Dämmerlicht einer Kirche geflüstertes Gebet.
    »Das ist einer der Gründe, warum ich das alles tue, Jake. Wenn es mir gelingt, die Wahrheit über meine Familie herauszufinden, kann ich auch die Wahrheit über Kambodscha herausfinden. Damit werde ich mich zwar nicht beliebt machen – viele Menschen wollen nämlich einfach nichts mehr von der schrecklichen Vergangenheit hören –, aber das ist mir egal.«
    Darauf fuhren sie fünfzehn Minuten lang schweigend weiter. Im Führerhaus des Pick-ups war es kalt. Dann trällerte Chemdas Handy los. Eine unpassend heitere Melodie. Cantopop. Sie ging dran, aber der Empfang war offensichtlich sehr schlecht.
    »Tou? Tou? Hörst du mich?« Das Telefon schüttelnd, schimpfte sie über das miserable netz und erklärte Jake: »Tou ist unser Führer. Er versucht mich zu erreichen. Aber die Handys funktionieren hier oben so gut wie gar nicht. Jedenfalls außerhalb der Städte.«
    Das überraschte Jake nicht. In einer Region, in der es keine Elektrizität gab, konnte man schwerlich eine perfekte Anbindung ans Telekommunikationsnetz erwarten. Dennoch verschärfte diese Feststellung sein wachsendes Gefühl von Isolation.
    Eine Stunde verging in immer gedrückterem Schweigen. Und dann:
    »Phonsavan!«
    Es war das erste Wort, das der Fahrer seit dem Morgen gesprochen hatte. Sie erreichten eine für laotische Verhältnisse relativ große Stadt. Eine wild wuchernde, hektische Betonwüste. Und im grellen Schein der primitiven Straßenbeleuchtung kam die Scheußlichkeit des Orts noch besser zur Geltung. Jake sah ein Internetcafé, ein schäbiges Ladengeschäft, in dem in Tücher geschlungene Menschen auf hell strahlende Bildschirme starrten; auf die Fenster einiger geschlossener Touristenläden war mit Farbe Plain des Jarres gepinselt.
    Der Pick-up schwenkte abrupt nach rechts auf einen extrem holprigen steinigen Weg.
    »Dahinten ist es. Das einzige Hotel weit und breit. Unser Zuhause.« Chemda lächelte mit einem Anflug von Sarkasmus. »Hier wohnt unser Führer Tou. Und der Historiker. Der von den beiden, der noch, äh, gehen kann … Nur gut übrigens, dass wir nachts ankommen; so fallen wir weniger auf. Die Pathet Lao wollen uns nämlich nicht hier haben. Wie auch?«
    »Für sie seid ihr nur Eindringlinge, die in der Vergangenheit wühlen.«
    »Ja. Aber es gibt auch … Spannungen. Mit den
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