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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten
Autoren: Tom Knox
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wurden …
    Moment mal. Als sie den Kopf von ihrem Notizbuch zu ihren Knochenbürsten drehte, stach ihr aus einer Ecke noch so ein weißer Schimmer in die Augen.
    Ein zweiter Schädel?
    Nach kurzem, vorsichtigem Bürsten hatte Julia die Bestätigung: ein zweiter Schädel. Und das dort, ganz hinten in der Ecke: war das etwa ein dritter?
    Was hatte das zu bedeuten?
    Jetzt war Julia nicht mehr zu bremsen. Sie machte sich sofort an die Arbeit. Sobald sie ihren Kollegen von ihrer Entdeckung erzählte, würden sie auf der Stelle anrücken und die Höhle für sich in Beschlag nehmen. Aber dieser Schatz, dieses Knochenlager war ihr Fund. Auf so etwas hatte sie den ganzen Sommer gewartet; nein, auf so etwas hatte sie fünfzehn Jahre lang gewartet. Sie müsste also schön blöd sein, sich diesen Fund wegnehmen zu lassen, ohne vorher das Bestmögliche aus der ganzen Sache herausgeholt zu haben.
    Inzwischen hatte es draußen zu regnen begonnen. Laut klatschten die Tropfen auf die Metallleiter am Ende des Gangs und schwärzten oben auf der Cham des Bondons die eindrucksvollen alten Menhire. Aber Julia nahm kaum Notiz davon. Inzwischen war ganz deutlich zu erkennen, dass der Boden der Höhle – es war kaum zu glauben – von menschlichen Skeletten übersät war.
    Und alle wiesen Spuren schwerer Verletzungen auf.
    Sie schaute. Entsetzt. Das Licht ihrer Stirnlampe war inzwischen sehr schwach, aber es reichte noch aus, um ihren Fund zu beleuchten.
    Drei Schädel wiesen Löcher auf. Gezielt gebohrte Löcher. Trepanationen. Vier weitere Skelette, ein Mann, eine Frau und zwei Kinder, hatten zwar keine aufgebohrten Schädel, wiesen aber eine andere Besonderheit auf.
    Julia rieb sich die Augen, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. Aber es war unstreitig. Zwischen den schmutzig weißen Rippen und Halswirbeln der Skelette steckten Feuersteinpfeilspitzen. In den unterschiedlichsten Winkeln. Das Gewebe, das sie einmal durchbohrt hatten, war schon vor Tausenden von Jahren verwest, aber die steinernen Pfeilspitzen, die zwischen den Rippen lagen oder noch in den Wirbeln steckten, waren erhalten geblieben.
    Diese vier Steinzeitmenschen waren brutal ermordet oder sogar hingerichtet worden. Von allen Seiten mit Pfeilen beschossen. Rituell getötet. Julia konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das etwas mit den anderen, den trepanierten Schädeln zu tun haben musste. Aber worin genau bestand dieser Zusammenhang?
    Sie wurde abrupt in ihren Überlegungen unterbrochen.
    Da war es wieder, dieses Geräusch.
    Diesmal war es unverkennbar. Jemand, etwas kam die Metallleiter herunter. In der Dunkelheit der Höhle, die wegen des schwächer werdenden Scheins ihrer Stirnlampe noch intensiver wurde, erschien Julia das Scheppern der rostigen Sprossen bedrohlich laut.
    Sie hob die Hand an ihre Stirnlampe und klopfte dagegen. Es half nichts. Das Licht ging ganz aus. Die Batterien waren leer. Jetzt konnte sie nichts mehr sehen – aber umso besser hören. Und die Schritte, die in dem undurchdringlichen Dunkel näher kamen, ließen sie erschrocken zurückweichen.
    »Hallo? Wer ist da? Wer ist da?«
    Das Dunkel antwortete nicht. In dem grauen Flecken Licht unter dem Eingang der Höhle war nur ein schwarzer Schemen zu erkennen. Eine dunkle Gestalt. Hünenhaft. Riesig. Julia versuchte, Gesichtszüge auszumachen, aber alles, was sie erkennen konnte, war diese bedrohliche Silhouette. Und dann kam die dunkle Gestalt rasch den Gang herunter, direkt auf sie zu. Näher, immer näher.
    Julia schrie entsetzt auf.

2
    V ang Vieng war der seltsamste Ort, an dem Jake je gewesen war. Die zwei Jahre, die er in Südostasien als Fotograf unterwegs war, und das, was er erlebt hatte – von den Vollmondfesten auf Ko Phangan, wo Tausende vollgedröhnter junger Rucksacktouristen aus dem Westen an Korallenstränden neben Seezigeunern die Nächte durchtanzten, bis zu den Restaurants von Hanoi, in denen chinesische Geschäftsmänner noch schlagende, aus lebenden Schlangen herausgeschnittene Kobraherzen aßen und dabei über den Bau von Atomkraftwerken verhandelten –, diese Erfahrungen, glaubte er, hätten ihn gegen die aberwitzigen Gegensätze und Widersprüchlichkeiten Südostasiens abgehärtet.
    Doch Vang Vieng, an einem Nebenfluss des Mekong in der Mitte des langgezogenen kleinen Landes Laos gelegen – das, wie er sich immer wieder einzuprägen versuchte, so ausgesprochen wurde, dass es sich auf Bau reimte, nicht auf Haus –, hatte ihm einmal mehr vor Augen geführt,
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