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Stollengefuester

Stollengefuester

Titel: Stollengefuester
Autoren: Marijke Schnyder
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die dunklen Gassen schob.
    Ganz zuhinterst im Tea-Room Eichenberger wurde ein Tisch frei. Die Sitzflächen waren noch warm. Die Luft war stickig und heiß. Es roch nach Kaffee, frischen Brötchen, Parfum und Schweiß.
    Hier hatten sich ihre Mutter und der Prophet mit den Mädchen im Schlepptau getroffen. Dieses Café war zu einem Familienlokal geworden und über die Ausstattung hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Es war vertraut und aus diesem Grund jeder Kritik entzogen. Ganz im Gegenteil, dass jemand den Nerv hatte, ein Café über so viele Jahre dem Zahn der Zeit auszusetzen, verdiente Bewunderung. Holzstühle und Holztische mit der Linoleum-Einlage waren im Verlauf der Jahre in ihrer Wahrnehmung geschrumpft. Auch die Garderobe, die Telefonkabine. Am meisten hatten sich die Bilder verändert. Das Bild mit dem Einspänner, in dem eine Dame unter einem rosaroten Hut durch einen Park kutschierte. Und das Dschungelbild. Es hatte Jahre gedauert, bis Nore eines Tages mit kindlichem Schrecken feststellte, dass eine dunkle Frauengestalt mit einem Fruchtkorb auf dem Kopf quer durch das grüne Bild ging. Unzählige Male hatte sie dieses Bild angeschaut, ohne die Frau mitten im grünen Dschungel zu sehen.
    Hier hatte sie zu ihrem grossen Glück entdeckt, dass sie in Bilder schlüpfen konnte. Sie nutzte diese Möglichkeit beim Zahnarzt, wenn sie mit weit aufgesperrtem Mund und völlig verängstigt verharren musste, damit der Zahnarzt zu Werke gehen konnte. Um ihr die Spange anzupassen, diesen Zaun für den Mund. Wenn es nicht mehr auszuhalten war, rettete sie sich mit einem Gedankensprung in das himmelblaue Gemälde hinter seinem massigen Rücken an der Wand.
    Nore Brand schaute sich um und setzte sich in dieses Wohnzimmer einer Tante, der man die veralteten Möbel nicht übel nahm. Das Wohnzimmer einer alten Dame durfte dem Wandel der Zeiten enthoben sein. Basta.
    »Sie wünschen?«
    »Einen doppelten Espresso und zwei Gipfeli.«
    Die junge Frau stapelte hastig die leeren Tassen aufeinander.
    »Heute sind viel mehr Menschen da als letztes Jahr. Das spürt man. Viel mehr. Eigentlich erstaunlich, wo doch alle von Krise sprechen, oder?«
    Sie erwartete keine Antwort. Missbilligend ließ sie ihren Blick über den Boden gleiten. Überall schmutziges Konfetti. »Soeben haben wir die Hämmerchen weggeschickt. Wenigstens den Morgenkaffee sollte man doch in aller Ruhe genießen können.«
    Die junge Frau erwartete keinen Dank.
    ›In aller Ruhe‹, wiederholte Nore Brand für sich. Sie hatte ganz andere Vorstellungen von Ruhe. Hitze, heftige Deodorants, lautes Stimmengewirr, Geschirrklappern und Zigarettenqualm gehörten nicht dazu.
    Sie griff nach der Tageszeitung, die jemand vergessen hatte. Ein Artikel warnte vor Taschendieben. Wie immer vor Weihnachten. Ein anderer erinnerte an ein Abkommen von Washington. Rückerstattungen von Raubkunst, die nie stattgefunden haben: Mehr als hunderttausend Kunstwerke suchen ihre Besitzer. Die kleine Meerjungfrau ist wieder in Kopenhagen. Ihre erste Reise hatte sie nach Shanghai zur Weltausstellung geführt. ›Zum Glück gehört die Sehnsucht‹, stand in fetten Buchstaben über einem Interview mit einem TV-Journalisten. Eine ganze Seite war den Weihnachtsmärkten im norddeutschen Küstenland gewidmet. Ein farbiges Bild von Hamburg in weihnächtlicher Stimmung.
    Und dann das: In St. Petersburg fand ein Tiger-Gipfeltreffen statt. Unter der Führung von Regierungschef Putin sollten die letzten noch lebenden Tiger gerettet werden. Putin als Tierschützer? Nein, Tiger-Schützer. Das passte gut. Für die letzten lebenden Salzwasserfrettchen würde sich dieser Mann vermutlich nie in die Bresche werfen. Falls sich diese Tierchen nicht unerwarteterweise als Geheimwaffe im Kampf um die unermesslichen Bodenschätze in der Arktis entpuppten. Sie wünschte den letzten lebenden Salzwasserfrettchen, dass irgendein Biologe sie entdecken und ihre erstaunlichen Fähigkeiten erkennen würde.
    Sie blätterte weiter.
    Die Wetterseite meldete Schnee und Regen für die nächsten Tage. Egal. Wer die vier kommenden Tage im Oktogon, im türkischen Bad, verbringen wollte, brauchte sich nicht darum zu kümmern.
    Ihr Blick glitt über das Zitat auf Seite 32 hinweg. Noch wusste sie nicht, dass es beängstigend gut zu diesem Tag passte. ›Der Mensch lebt in der Illusion, ständig Weichen zu stellen, bis er erkennt, dass sie längst gestellt sind.‹
    Who cares.
    Über dem geschäftigen Lärm drang plötzlich Ninos Stimme
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