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Stollengefuester

Stollengefuester

Titel: Stollengefuester
Autoren: Marijke Schnyder
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reichen.
    Als er sich die zweite Tasse geholt hatte, war er seiner Sache zu hundert Prozent sicher: Es ging wieder los und es war hoffentlich der letzte Akt in dieser Sache. Er war zwar mittlerweile ein alter Trottel geworden, aber er konnte zwei und zwei immer noch ganz locker im Schlaf zusammenzählen. Dieser Gedanke heiterte ihn ein wenig auf. Dass ihn das Nachdenken über diese Heiterkeit belustigte, war noch viel besser.
    Also: Der Direktor vom Hotel Belvedere war tot.
    Der Chef wirkte sehr beunruhigt.
    Wer wollte, konnte es ganz dramatisch haben, dachte Bärfuss grimmig: Die Wunde im Berg blutete wieder.
    Er beugte sich über seinen Schreibtisch, hob den Hörer auf und wählte eine Nummer.
    Die private Nummer von Nore Brand. Sie musste wissen, was los war.
    Er musste sie, als ihr direkter Vorgesetzter, nochmals daran erinnern, dass sie Talverbot hatte.
    Dann hätte er seine Schuldigkeit getan. Sie würde eh das machen, was sie für richtig hielt. Das Theater um oben und unten schien Nore Brand nicht zu kümmern; es war noch schlimmer, ihre Welt kannte keine Hierarchien. Der Herr Kollege ›Ganzoben‹ machte ihr keinen Eindruck, dieser wusste das natürlich, weshalb er ihr aus dem Weg ging. Mehr noch, es machte ihn fuchsteufelswild, dass Nore Brand keine wackligen Knie bekam oder blass wurde, wenn er tobte. Die Natur schien völlig vergessen zu haben, Nore Brand mit dieser Oben-unten-Sensibilität auszurüsten.
    Und ihm selber schien diese Sensibilität langsam, aber sicher abhandenzukommen. Er schmunzelte. Womöglich gab es auch für ihn noch Hoffnung.

Nore Brand soll’s richten
     
    Es war der 22. November, der vierte Montag des Monats, kurz vor sechs Uhr morgens. Nore Brand eilte durch die Stadt, auf der Suche nach den Marktständen.
    Der Wetterbericht hatte Schnee angekündigt. Schnee! Dies eine Woche, nachdem man auf den Terrassen Kaffee getrunken und die warme Sonne genossen hatte.
    Noch hatte die Nacht die Stadt in ihren Fängen. Es war kalt, nur wenig über dem Gefrierpunkt, und eine schwere, graue Wolkendecke hing tief über der Stadt.
    »Du hast mich heut’ noch nicht …«, ölte ein Tenor aus einem billigen Lautsprecher. Das letzte Wort des Refrains drang nicht mehr an ihr Ohr. Ein dumpfer Schlag an ihren Kopf war schuld. Zu verblüfft, um wütend zu werden, schaute sie sich um, dann sah sie den kleinen Buben. Er stand vor ihren Füßen und schaute hinter seiner Plastik-Keule erschrocken zu ihr auf, die Mütze schief auf dem Kopf, die Wangen glühten vor Kälte und Aufregung. Bevor sie reagieren konnte, wurde sie von der marktfreudigen Menge weitergeschoben. Piepsende Plastik-Hämmerchen zeugten unablässig von kindlichen Rachefeldzügen.
    Schaumberge türmten sich im Schützenbrunnen; irgendein Spaßvogel hatte Waschpulver in das Brunnenwasser geworfen.
    Nore Brand schaute sich um: Wo war ein bekanntes Gesicht? Die Kollegen von der Gewerbepolizei waren die ganze Nacht unterwegs. Kontrollierten Zwiebelstände, die Bewilligungen der Marktfahrer und ihre Zwiebeln. 50 Tonnen Zwiebeln aus dem Seeland.
    Vermummte Gestalten schoben sich hastig durch die Menge, um vor der Arbeit Marktluft zu schnuppern. Sie gingen an Zwiebelzöpfen vorbei und bunten Strickwaren. Eine tibetische Klangschale ließ die kalte Morgenluft vibrieren. Hinter einem Berg von Schafpelzen rieb sich eine Marktfahrerin die Hände, der glühende Heizstrahler über ihr hing viel zu hoch.
     
    Nore Brand blieb vor einem bunt geschmückten Stand stehen. Lebkuchen lagen da, Magenbrot und Zuckermandeln. Sie rang mit süßen Gelüsten, als das herausfordernde Lachen eines Mädchens in ihr Bewusstsein drang. Sie drehte sich um. Im gleichen Augenblick sah sie, wie die Kleine ihre Hand aus ihrer Konfetti-Tüte zog und mit einem gemeinen Gesichtsausdruck einer bepelzten Frau nachsetzte. Bevor Nore Brand wusste, was sie tat, hatte sie dem Mädchen die Tüte aus der Hand gerissen und ihr den Rest des grellgrünen Inhalts über dem Kopf ausgeleert. Die Papierschnitzel legten sich wie ein Schleier über ihr krauses Haar.
    »Jetzt siehst du richtig gut aus!«, lachte sie und steckte der Kleinen ein Geldstück zu.
    »Hier. Für den Ersatz!«
    Rasch drehte sie sich um und ließ sich von der Menge weiterdrängen.
    Sie spürte die Kälte. Höchste Zeit für Kaffee. Zwischen zwei Ständen fand sie eine Lücke, durch die sie dem Gedränge entfliehen konnte. Aufatmend blieb sie unter den Lauben stehen und schaute der Menschenschlange nach, die sich durch
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