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Stollengefuester

Stollengefuester

Titel: Stollengefuester
Autoren: Marijke Schnyder
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Weißpulvers lag.
    Er setzte sich, schaufelte dreimal Zucker in den Becher und trank seinen Kaffee mit genüsslichen, kleinen Schlucken. Sein Blick verweilte dabei liebevoll auf dem Sucrier von Tante Sophie. Er versuchte sich vorzustellen, wie der Silberschmied an diesem Gefäß gearbeitet hatte. Wie er die Pflanzenmotive hineinklopfte, die menschlichen Figuren mit ihren seltsamen Bewegungen. Sie schienen zu musizieren. Doch ihre Instrumente waren kaum mehr zu erkennen. Die Zeit hatte sie weggerieben.
    Er fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Die Oberfläche war nicht glatt, steril und glänzend, hatte keine klare Form, sie war abgenützt, aber sie war lebendig.
    Immerhin schienen sich diese Figürchen eines langen Lebens zu erfreuen. Sie tranken zusammen, lachten zusammen, tanzten. Dass sie so abgenützt waren, schien sie nicht zu kümmern.
    Tante Sophie hatte vor Jahren angefangen, Erbstücke unter ihren Nichten und Neffen zu verteilen. Nicht, dass sie damit rechnete, in absehbarer Zeit das Zeitliche zu segnen, wie sie zu sagen pflegte, absolut nicht: Sie erfreute sich bester Gesundheit. »Wenn ich dann einmal plemplem bin, dann soll alles geregelt sein«, hatte sie erklärt.
    Bastian Bärfuss hatte sich an die fragenden Blicke derjenigen, die ihn in seinem Büro besuchten, gewöhnt. Offenbar fiel es manchem schwer, einen Zusammenhang zwischen ihm und dem verspielten Sucrier herzustellen. Er genoss diese Augenblicke der Verwirrung.
    An diesem Morgen jedoch heiterte ihn der Gedanke an seine Tante nicht auf. Der Chef war daran schuld. Bastian Bärfuss schob wütend den Sessel zurück und erhob sich mit einem Ruck.
    Im Simmental oben war also wieder etwas los. Im Grund hatte er die ganze Zeit nur darauf gewartet. Seit zehn Monaten hatte er auf diesen Moment gewartet.
    Als Nore Brand von ihrer Weihnachtsreise nach St. Petersburg zurückkam, hatte er sie zur Rede gestellt, sie verheimliche etwas vor ihm.
    Dieses abrupte Ende der Ermittlungen im Mordfall Ehrsam war ihm auf einmal höchst suspekt. Ehrsam, ja, Ehrsam war der Name gewesen. Er schlug sich vor die Stirn. Donnerwetter, er hatte nicht einmal ihren Namen vergessen!
    Nore Brand konnte keiner zur Rede stellen. Wie er es auch anstellte, er blieb erfolglos. Sie hatte ihn nur angeschaut und geschwiegen. Sie würde dann reden, wenn es ihr passte. Das musste er hinnehmen. Er hatte auch keine Wahl.
    Aber eines Tages würde sie zu hoch pokern.
     
    Das Telefon läutete wieder. Er stieß einen Fluch aus und warf einen Blick auf die Wanduhr. Schon wieder einer so früh. Was war denn heute los?
    Er ließ sich in den Sessel fallen und griff nach dem Hörer.
    »Bärfuss«, meldete er sich.
    Es war nochmals der Chef. Es war ihm noch nie gelungen, eine Sache in einem Gespräch auf den Punkt zu bringen. Er brauchte immer mehrere Anläufe. Das war mit den Jahren immer schlimmer geworden.
    Ein paar Minuten später legte Bastian Bärfuss den Hörer wieder auf. Er packte die kalte Pfeife und stellte sich ans Fenster. Also doch. Es ging wieder um diese alte Sache. Hochgeheim offenbar, und es stank zum Himmel.
    Man hatte den Direktor vom Grandhotel Belvedere tot aufgefunden. Abgestürzt. Er sei unterwegs gewesen, in den Bergen. Ganz allein.
    Ganz allein? Wer, zum Teufel, sollte das glauben?
    Eine traurige Sache; immerhin habe man zusammen die Schulbank gedrückt. Der Chef hatte sich um Schadensbegrenzung bemüht, versucht, die Sache kleiner zu machen, als sie war. Genau das hatte ihn verraten. Da steckte mehr dahinter, als ihnen allen lieb sein konnte.
    Bärfuss stopfte seine Pfeife. Nahm die Tageszeitung auf und legte sie wieder hin. Man konnte nie wissen. Vielleicht war es doch nur eine simple Sache, ein falscher Tritt an einer dummen Stelle.
    Wie oft las man von Touristen, die auf einem Bergpfad das Gleichgewicht verloren und in die Tiefe stürzten. Dabei hatten sie den Tag genießen wollen, weil sie die Natur liebten, die Berge. So stand es dann in den Todesanzeigen.
    Zum Glück hatten sie die Berge geliebt! Als ob das etwas an der Tatsache änderte, dass sie nun tot waren.
    Bärfuss verzog sein Gesicht. Wie viel sentimentaler Unsinn stand doch in diesen Anzeigen. Er schob die Zeitung zur Seite.
    Die Berge waren ihm unheimlich. Zu Felsen erstarrte Monster, die sich plötzlich bewegten, schüttelten und diejenigen, die an ihnen herumkletterten, abwarfen, wenn die Laune dazu sie überkam.
    Überall lauerten Gefahren. Steinschlag, überhängende Felsen, Steilwände. Und man bewunderte
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