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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel
Autoren: Andreas Götz
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denn?«
    Sascha überlegte kurz. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Eigentlich tut sie mir vor allem leid.«
    »Mir auch.« Androsch wandte den Kopf, schaute durch das Fenster hinaus in den grauen Himmel. »Sie hat mir damals schon leidgetan, als sie zu mir in Therapie kam. Ihre Eltern haben sie zu mir geschickt. Ich sollte sie wieder hinbiegen. Ich musste nur eine Stunde mit ihr reden, um zu sehen, dass nicht nur Mareike krank war, sondern die ganze Familie.« Er wandte Sascha das Gesicht wieder zu. »Die Eltern wollten um jeden Preis einen Sohn, deshalb haben sie sie in den ersten Jahren behandelt wie einen Jungen und sogar mit dem Namen Tristan gerufen. Als dann wider Erwarten noch ein Junge kam, haben sie Mareike einfach links liegen lassen. Materiell bekam sie alles. Ansonsten nichts. Mareike hat behauptet, ihr Vater habe nur deshalb so dringend einen Sohn haben wollen, weil er pädophil sei und ihn missbrauchen wolle.«
    »Glauben Sie das?«
    »Ich weiß es nicht. Tristans Tod hat jedenfalls auch die allerletzten Beziehungen innerhalb der Familie zerstört. Die Eltern wollten sie in ein Internat abschieben, aber sie wurde schon nach ein paar Monaten wieder zurückgeschickt, weil sie sich allem verweigerte. Seltsam, oder? Sie hätte die Chance gehabt, ihr Gefängnis zu verlassen, aber sie wollte unbedingt wieder dorthin zurück. Zu mir sind die Eltern dann bloß gekommen, weil ein Arzt bemerkt hat, dass Mareike sich mit Zigaretten verbrennt, und er damit drohte, er werde das Jugendamt einschalten, wenn nicht etwas geschehe. Ich wollte die Eltern in die Therapie einbeziehen, aber sie haben sich verweigert und wurden mit der Zeit richtig feindselig. Der Vater nannte Mareike eine Lügnerin und erinnerte mich ständig an meine Schweigepflicht. Es ging ihm nur um seinen makellosen Ruf. Unter diesen Umständen konnte ich Mareike nur schwer helfen. Trotzdem habe ich sie nicht weggeschickt. Ich hatte zu große Angst um sie. Meine Zuwendung hat sie missverstanden. Sie hat sich heftig verliebt und wollte nicht einsehen, dass wir keine Beziehung haben können. Sie dachte, es sei, weil sie mir nicht gefällt. Es war unmöglich, ihr das auszureden.« Er senkte den Blick auf die Bettdecke, schwieg eine Weile und schaute dann wieder auf. »Ich habe mich an keiner meiner Patientinnen vergriffen. Das musst du mir glauben, Sascha. Mit Laila, das war etwas anderes. Wir haben uns geliebt. Trotzdem war es falsch von mir. Deshalb habe ich es ja auch beendet.«
    Androsch ließ den Kopf ins Kissen sinken und schloss die Augen. Anscheinend war er müde.
    Sascha überlegte, ob er auch Mirko ansprechen sollte, doch er ließ es bleiben. Beim nächsten Mal vielleicht.
    »Ich geh dann jetzt.« Er stand auf und trat ans Bett. Androsch öffnete die Augen und sah ihn an.
    »Danke für den Besuch«, sagte er. »Das hat mir viel bedeutet. Vielleicht kommst du ja wieder.«
    »Bestimmt.«
    Androsch griff nach seiner Hand, hielt und drückte sie eine ganze Weile. In seinen Augen glitzerten Tränen.

49
    DIE TAGE VERGINGEN, und Sascha hatte noch immer keinen Kontakt zu Joy. Seine SMS war unbeantwortet geblieben. Anders als er, ging Joy noch nicht zur Schule und verließ auch sonst die Wohnung nicht. Vielleicht, so dachte er, gibt es ja einen anderen Weg, endlich zu ihr durchzudringen. Obwohl es ziemlich kühl geworden war und auch schon geschneit hatte, setzte er sich mit seiner Gitarre auf den Balkon und begann zu spielen. Er hatte ein neues Stück komponiert, für Joy und für sich selbst und für dieses Gefühl, das ihn mit ihr verband.
    Er musste nicht allzu lange warten, bis nebenan die Balkontür aufging. Am liebsten wäre er aufgesprungen und zu ihr hinübergeklettert, um sie endlich, endlich in die Arme zu nehmen. Doch er tat es nicht. Vielleicht kam sie nur, um ihm zu sagen, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Er blieb also sitzen und spielte weiter, und es war wie immer Joy, die die Klettertour machte. Sie trug einen Norwegerpullover und eine Jogginghose, war weder frisiert noch geschminkt und sah einfach super aus. Selbst die Schrammen in ihrem Gesicht konnten ihrer Schönheit nichts anhaben. Das kam daher, dass diese Schönheit nichts rein Äußerliches war. Sie strahlte aus ihrem Innern.
    Als sie bei ihm war, hörte er auf zu spielen, doch sie sagte: »Mach weiter. Das ist schön.«
    Also spielte er weiter.
    Und während er spielte, trat sie irgendwann neben ihn und begann, ihm mit
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