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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel
Autoren: Andreas Götz
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jedes Mitgefühl und jedes Verständnis und jeder Ruf nach mildernden Umständen auf. Du hast eine schwere Kindheit gehabt? Okay, das haben viele. Zieht bei mir überhaupt nicht.«
    Ich greife nach den Zigaretten auf dem Tisch, aber sie wischt die Schachtel und das Feuerzeug mit einer schnellen Bewegung weg, sodass beides über die Tischkante fliegt und auf dem Boden landet.
    »Du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht auf frischer Tat ertappt habe. Weißt du, was ich getan hätte? Hier, sieh dir das an.« Sie greift unter ihre Jacke, zieht ihre Dienstwaffe aus dem Holster. »Ich hätte dich damit abgeknallt. Ohne mit der Wimper zu zucken. Eiskalt. Ohne Reue. Auch wenn du noch ein halbes Kind bist. Und ich weiß nicht, was mich hindert, das jetzt nachzuholen.«
    Sie ist cool. Ich mag sie. Wir verstehen uns. Ein wenig tut sie mir auch leid. Es macht sie fertig, dass ich womöglich keinen Tag ins Gefängnis muss, sondern in einer geschlossenen Anstalt von mitfühlenden Typen in weißen Kitteln gepampert werde. Aber wenn es dich tröstet: Mir wäre richtiger Knast auch lieber. Diese ganze Psychoscheiße hab ich jetzt schon so was von gefressen.
    Es klopft an die Tür. »Deine fünf Minuten sind gleich um, Ilona.«
    Sie sieht mich mit einem vernichtenden Blick an – er soll mich vernichten, aber er tut es nicht –, dann geht sie zur Tür. Dort bleibt sie stehen und sagt: »Doch, ich weiß, warum ich dich nicht abknalle. Weil ich dir damit bloß einen Gefallen tun würde. Lebenslang so sein zu müssen wie du, das ist doch überhaupt die schlimmste Strafe.«
    Damit hat sie zwar recht. Aber heulen werde ich trotzdem nicht.

47
    SCHON ZUM DRITTEN Mal versuchte Sascha, Joy zu erreichen, aber es meldete sich immer nur die Mailbox. Rief er auf dem Festnetz an, landete er ebenfalls nur beim Anrufbeantworter. Das allein beunruhigte ihn noch nicht. Bei ihm waren Festnetztelefon und Handy gerade auch die meiste Zeit aus, weil ständig jemand von einer Zeitung oder einem Fernsehsender anrief und ein Interview wollte. Auf diese Art Berühmtheit hatte er so wenig Lust wie sie. Aber wieso rief sie nicht wenigstens zurück? Oder kam einfach rüber?
    Er fühlte sich schuldig, weil sie durch ihn die schrecklichste Nacht ihres Lebens durchgemacht hatte und sogar in Todesgefahr gekommen war. Ein Scheißgefühl. Immerhin half ihm an sie zu denken dabei, die eigenen Ängste und die Geister, die seine Gefangenschaft in Mareikes Bauwagen geweckt hatte, wegzuschieben. Er war in der letzten Nacht jede Stunde aus dem Schlaf geschreckt, weil er glaubte, die Wohnung stehe in Flammen. Sogar den Rauch hatte er gerochen. Und es hatte Minuten gebraucht, bis er begriffen hatte, dass alles in Ordnung war.
    Sascha hielt es nicht länger aus. Er musste das jetzt klären. Er musste mit Joy reden und sich entschuldigen. Sofort. Und noch etwas anderes musste er endlich tun: Ihr sagen, was er für sie empfand. Das Schweigen darüber, das Verstellen und Versteckspielen dauerten schon viel zu lange.
    Als er nebenan klingelte, hörte er hinter der Tür Stimmen. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis geöffnet wurde. Zu Saschas Enttäuschung nicht von Joy, sondern von ihrer Mutter. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich über seinen Besuch freuen. Und wie sich zeigte, tat sie das auch nicht.
    »Wir müssen mal reden, Sascha.« Sie kam auf den Flur heraus, lehnte die Tür hinter sich an. »Ich möchte dich bitten, Joy für eine Weile in Ruhe zu lassen. Sie ist total fertig. Traumatisiert. Sie war gefangen, eine ganze Nacht lang. Jemand wollte sie umbringen. Dich auch, ich weiß, ich geb dir auch keine Schuld. Aber Joy braucht Zeit, das alles zu verarbeiten. Von ihren körperlichen Blessuren mal ganz abgesehen. Na ja, und du solltest auch erst mal für dich mit allem ins Reine kommen.«
    »Will Joy das auch? Oder nur Sie?« Er konnte nicht verhindern, dass er gereizt klang.
    »Ich bin Joys Mutter, ich weiß, was gut für sie ist. Besser als du, glaub mir.« Auch bei ihr klang unter der Höflichkeit ein spitzer Unterton mit. »Aber ich tue das nicht gegen ihren Willen, da kannst du sicher sein. Alles Gute für dich, Sascha.«
    Damit ließ sie ihn stehen. Er schaute noch eine halbe Minute lang auf die Tür, weil er es einfach nicht fassen konnte. Hatte er das eben richtig verstanden? Wollte Joy ihn wirklich nicht sehen? Niedergeschlagen kehrte er in die Wohnung zurück. Da läutete sein Handy. Joy? Hastig kramte er es aus der Hosentasche.
Mama
, stand im
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