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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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Löbliches über unsere Freundschaft, über meine Güte, wieder beinahe eine ganze Nacht mit ihm gewacht zu haben, und rieb sich die wächserne Stirne. »Wenn du Kopfschmerzen hast«, sagte ich, »oben habe ich Saridon.« Das hörte er schon nicht mehr. »Du hast recht«, wiederholte er mehrere Male, »morgen um neun Uhr werde ich sie sehen –« Endlich standen wir auf der Schwelle, ich selber zum Umfallen müde, und Stiller löschte den Kronleuchter mit seinem wässernen Licht. »Bete für mich, daß sie nicht stirbt!« sagte er, und unversehens standenwir im Finstern; Stiller hatte vergessen, zuerst das Licht in der Diele anzudrehen. »Ich liebe sie –«, hörte ich ihn sagen. Schließlich fand ich den Schalter in der Diele, und wir gaben einander die Hand. Stiller wollte noch in den Garten gehen. »Ich muß Luft haben«, sagte er, »ich habe einfach zuviel getrunken.« Er war sehr ruhig.
    Am andern Morgen, Ostermontag, kamen wir gegen neun Uhr hinunter, meine Frau und ich. Unser Frühstück stand bereits auf dem Tisch am offenen Fenster, Kaffee unter der Haube, zwei Gedecke mit allem Zubehör. Weder Salzfäßlein noch Aschenbecher fehlten. Die weichen Eier, das eine für Sibylle als dreiminütiges angeschrieben, wie auch der Toast unter der Serviette waren noch warm; unser Freund mußte uns beim Waschen gehört haben und konnte noch nicht lange aus dem Hause sein. Meine Frau hatte das Gepolter in der Nacht gehört, wußte im übrigen nur, daß wir lange gesprochen hatten. Natürlich vermuteten wir Stiller bereits in der Klinik. Unser so langes Nachtgespräch kam mir nun fast wie ein Traum vor, ohne rechten Zusammenhang mit der taghellen Wirklichkeit, als wir uns an den Tisch setzten mit Sonne auf dem Geschirr, mit dem köstlichen Blick über den vergißmeinnichtblauen Genfer See zu den verschneiten Savoyer Alpen. Unter der Voraussetzung, daß aus der Klinik eine weitere erfreuliche Kunde käme, beschlossen wir, im Laufe dieses Tages über Chèbres, Yverdon, Murten oder Neuenburg weiterzufahren, um auf der Peterinsel noch einen eigenen Ferientag zu verbringen. Das Wetter war zu wundervoll. In einem nachbarlichen Garten blühte bereits eine Magnolie in voller Pracht, die Forsythien leuchteten allenthalben in gelben Garben, die über die Zäune hängen, das blutrote Funiculaire zwischen grünen Hängen voll Schlüsselblumen fuhr leer hinunter, voll Ausflügler hinauf. Es war eine geradezu kindlich bunte Welt mit allem, was nur zu einem Ostertag gehört; die Vögel zwitscherten bis zur Lärmigkeit, und auf dem See fuhr ein weißer Vergnügungsdampfer gegen Schloß Chillon, irgendwo in der Ferne spielte eine sonntägliche Blechmusik, die Bundesbahn rollte. Stiller traf uns noch beim behaglichen Frühstück. Unsere sofortige, doch etwas bange Frage, wie es ginge, bezog sich selbstverständlich auf Frau Julika; indessen kam unser Freund nicht aus der Klinik, sondern aus seinem Souterrain. Stiller hatte nicht geschlafen, den Rest der Nacht vermutlich im Garten, den frühen Morgen in seiner Töpferei verbracht. Natürlich war er bleich und übernächtig. Warum er nicht auf neun Uhr in die Klinik gegangen war, weiß ich nicht, auch war er noch unrasiert. Hatte er Angst?Scheinbar zuversichtlich, als stünde Frau Julika kurz vor der Entlassung aus der Klinik, redete er von anderem. Nicht einmal angerufen hatte er. Ich sollte in die Klinik fahren, meinte er, und seiner Frau doch sagen, er käme gegen elf Uhr. Von seinen Ausreden war nicht eine einzige stichhaltig. Er müßte sich noch rasieren. Dann wieder hörten wir, eine wichtige Persönlichkeit auf Durchreise hätte gebeten, seine Keramik zu sehen, und käme gegen zehn Uhr, was stimmte, indessen kein angemessener Grund war. Vielleicht scheute sich Stiller, mit seinem Fuselgeruch vor das Krankenbett zu treten. Auch gegenüber meiner Frau hielt er sorgsam die Entfernung, auffallend. »Ich stinke«, sagte er. Nun hätte ihn ja eine tatsächliche oder vermeintliche Weinfahne nicht hindern können, wenigstens in die Klinik anzurufen, was Stiller aber nicht wollte. Ihn zu nötigen, stand mir nicht zu. Schließlich fuhr meine Frau mit mir zur nahen Klinik Val Mont, wo sie im Wagen wartete; es konnte sich jedenfalls nur um einen ganz kurzen Besuch handeln, sofern der Besuch einem Nichtangehörigen überhaupt gestattet sein würde. Es war ein wirkliches Bedürfnis, Frau Julika wenigstens zu sehen, bevor wir weiterführen. Bei der Anmeldung war mir mit einem Schlage alles schon
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