Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
bewußt. In einem sonnigen Korridor, wo Blumenvasen vor den Türen standen und stumme Schwestern hin und her gingen, hatte ich noch eine bange Viertelstunde zu warten, bis der junge Arzt mir ihren Hinschied meldete. Auf mein dringendes Verlangen hin wurde mir versprochen, daß Herr Stiller keinesfalls durchs Telefon unterrichtet würde. Der Tod war vor einer halben Stunde erfolgt, für den Arzt offenbar überraschend. Meinem anderen Wunsch, Frau Stiller zu sehen, wurde nicht entsprochen. Sie war bereits nicht mehr in ihrem Zimmer. Mein Gesicht, ich weinte vermutlich, genügte dann doch; oder machte es meine Legitimation? Jedenfalls wurde die Oberschwester geheißen, mich zu der Toten zu führen.
    »Ihre Haare sind rot, der gegenwärtigen Mode entsprechend sogar sehr rot, jedoch nicht wie Hagebutten-Konfitüre, eher wie trockenes Mennig-Pulver. Sehr eigenartig. Und dazu ein sehr feiner Teint; Alabaster mit Sommersprossen. Ebenfalls sehr eigenartig, aber schön. Und die Augen? Ich würde sagen: glänzend, sozusagen wässerig, bläulich-grün wie die Ränder von farblosem Fensterglas. Leider hat sie die Augenbrauen zu einem dünnen Strich zusammenrasiert, was ihrem Gesicht eine graziöse Härte gibt, aber auch etwas Maskenartiges, eine fixierte Mimik von Erstauntheit. Sehr edel wirkt die Nase zumal von der Seite, viel unwillkürlicher Ausdruck inden Nüstern. Ihre Lippen sind für meinen Geschmack etwas schmal, nicht ohne Sinnlichkeit, doch muß sie zuerst erweckt werden. Ihre offenen Haare sind köstlich, duftig, seidenlicht. Ihre Schneidezähne sind vortrefflich, nicht ohne Plomben, sonst aber von einem schönen Perlmutterglanz. Ich betrachtete sie wie einen Gegenstand; ein Weib, ein fremdes, irgendein Weib« ... Genau so lag sie auf dem Totenbett, und ich hatte plötzlich das ungeheure Gefühl, Stiller hätte sie von allem Anfang an nur als Tote gesehen, zum erstenmal auch das tiefe, unbedingte, von keinem menschlichen Wort zu tilgende Bewußtsein seiner Versündigung.
    Es blieb noch, dem Freund diese schwere Mitteilung zu bringen. Es hatte wenig Worte gebraucht; Stiller wußte es. Die Klinik hatte, wiewohl seit meinem Verlassen der Klinik fast eine Stunde vergangen war, nicht angerufen; aber als er mich erblickte, wußte er es, und ich glaube, Stiller sprach meine Mitteilung sogar selber aus; ich möchte nicht sagen: gefaßt, denn es war die erschreckende Gefaßtheit eines Geistesabwesenden. Ich wartete dann lange auf Stiller, um ihn hinzufahren. Er war in sein Zimmer hinaufgegangen, um seinen Rock zu holen, wie er sagte. Wir hörten überhaupt nichts, keine Schritte, kein Schluchzen, nur draußen die lärmigen Vögel, und mit der Zeit hatte meine Frau offenbar Angst, unser Freund könnte sich etwas antun. Daran glaubte ich nicht einen Atemzug lang, ging aber dennoch hinauf, als er immer und immer noch nicht kam, und klopfte an seine Türe. Als keinerlei Antwort erfolgte, trat ich ein. Stiller stand mitten im Zimmer, seine Hände in den Hosentaschen wie so oft. »Ich komme«, sagte er. Ich fuhr ihn in die Klinik und wartete im Wagen draußen. Das Bild der Toten war so viel stärker als alles, was ich mit offenen Augen zu sehen vermochte; als Bild eines vergangenen Wesens, das in seiner Zeit von niemand erkannt worden ist, am allerwenigsten von dem, der mit seiner menschlichen Liebe um sie gerungen hat. Schon nach einer Viertelstunde kam Stiller zurück, um sich neben mich in den Wagen zu setzen. »Sie ist schön«, sagte er. Ich verlängerte meinen Urlaub und blieb, nach der Abreise meiner Frau, noch einige Tage in Glion, um ihm allerlei abzunehmen, was es bei einem Todesfall zu tun gibt. Im übrigen hatte ich nicht das Gefühl, daß Stiller mich brauchte, und zu Gesprächen kam es nicht mehr. Das Medizinische interessierte ihn nicht, und sonst gab es kaum etwas zu sagen; es war alles entschieden. Am Abend nach dem kleinen Begräbnis auf einem fremden Friedhof, als ich ihn verlassen mußte, arbeitete Stiller in seinem Souterrain, versuchte es zumindest. Er führte michan jenes eiserne Törlein mit dem komischen Schild, geistesabwesend, so daß ich ihm zwei- oder dreimal die Hand gab. Wir sahen einander dann und wann; seine nächtlichen Anrufe blieben aus, und seine Briefe waren karg. Stiller blieb in Glion und lebte allein.
     
    1953/1954
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher