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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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mehr als freundschaftlicher Widerstand, wo immer der Freund, der geprüfte, sich seiner Prüfung zu entziehen suchte ... Ich nahm mir einen Marc, und als Stiller etwa nach zehn Minuten zurückkam, leider nicht ohne in der finsteren Diele gegen ein Möbel zu stoßen und ein Gepolter zu verursachen, fand er mich mit dem leeren Gläschen in der Hand. »Wie geht’s?« fragte ich, und Stiller nickte nur: er hatte seinen Magen geleert, offenbar auch sein Gesicht gewaschen. Sein Gesicht war grün mit entzündeten Augen darin. »Wie spät ist es eigentlich?« erkundigte er sich neuerdings. Er hatte sich auf die Truhe gesetzt, stützte sich mit ausgespreizten Armen. »Du hast recht«, sagte er, »diese idiotische Trinkerei –!« Von unserem ungelösten Gespräch schien Stiller nichts mehr wissen zu wollen. Um schlafen zu können, brauchten wir nur noch eine Redensart, so schien es, ein Klischee der Zuversicht: Morgen ist auch wieder ein Tag! oder dergleichen. Es schlug halb drei Uhr. Natürlich dachten wir beide an die Zeit in der Klinik. Dort war sie wichtig, die Zeit, nicht hier. Ich stellte mir unwillkürlich ihr Krankenzimmer vor, die Nachtschwester neben dem weißen Bett, die sitzt und ihren Puls mißt, hoffentlich den Arzt nicht rufen muß – undzum erstenmal hatte ich ebenfalls Angst. Ich sah das Telefon auf der Truhe, das jeden Augenblick hätte klingeln können, und hielt das Schlimmste für möglich. Das Verbot der abendlichen Visite kam mir in den Sinn. »Was denkst du?« fragte Stiller, und ich mußte irgend etwas sagen. »Es genügt«, behauptete ich, »wenn du jetzt vernünftig bist, Stiller, wenn du jetzt keine Gespenster siehst. Du liebst sie. Du hast angefangen, sie zu lieben, und Julika ist nicht gestorben, noch ist alles möglich ...« Ich schämte mich ein wenig, doch gerade solche Redensarten schienen Stiller zu beruhigen. »Hast du noch eine Zigarette?« fragte er, um nicht zu Bett gehen und nicht allein sein zu müssen. Ich war im Pyjama; ich hatte keine Zigaretten. »Deine Frau hat sicher nicht schlafen können«, meinte Stiller, »deine Frau habe ich geliebt – ich liebe sie noch«, fügte er ordnungshalber hinzu, »aber das weißt du ja.« Seine Pausen wurden größer und größer. »Laß doch«, murmelte er, als ich ein wenig die leeren Flaschen zur Seite räumte, damit Stiller nicht darüber stolpern und neuen Lärm verursachen würde. »Oder meinst du, ich habe überhaupt nie geliebt?« fragte er unsicher. »Überhaupt nie?« Sein Gesicht zerfiel nun zusehends in Müdigkeit. »Wenn ich bloß nicht so verdammt wach wäre!« meinte er und gab sich den Anschein, zum Aufbrechen bereit zu sein. »Du mußt dich ausruhen«, sagte ich, »morgen um neun Uhr wirst du sie sehen –« Seine Zigaretten, die blauen Gauloises, lagen neben dem Sessel auf dem Teppich. »Ich danke dir!« sagte Stiller, als ich ihm das eigene Päckchen anbot, und steckte sich eine Gauloise in den Mund, nahm sie aber trotz des brennenden Streichhölzchens, das ich hielt, nochmals heraus; »– morgen um neun Uhr werde ich sie sehen! ...« Dann rauchte er, als wäre der Rauch eine Nahrung. »Du glaubst nicht«, fragte er, »daß sie stirbt?« Daraufhin sagte ich etwas Unvorsichtiges: »Solange dein Telefon nicht klingelt, Stiller, besteht kein Grund zu solcher Angst.« Gesprochen war gesprochen, und ich konnte die unsinnige Bemerkung, die seiner Angst auch noch einen sichtbaren Anhaltspunkt verschafft hatte, nicht mehr zurücknehmen. Stiller blickte auf das schwarze Telefon. Infolgedessen redete ich weiter. »Darauf mußt du gefaßt sein«, sagte ich, »einmal wird auch Julika sterben. Ob früher oder später. Wie wir alle. Darauf mußt du schon gefaßt sein.« Stiller rauchte und schwieg. Ich hatte lange keine Ahnung, was er dachte. Endlich warf er seine Zigarette in den Kamin oder wenigstens in die Nähe davon, zum endgültigen Aufbruch bereit. Ich fror; das Kaminfeuer war am Verlöschen, und es gab kein Holz mehr. »Wahrscheinlich ist es doch gut«, sagte ich wieder etwasredensartmäßig, »daß wir geredet haben –« Stiller nickte ohne Überzeugung, saß nach wie vor auf der Truhe und stützte sich auf seine ausgespreizten Arme; er schien auf Kraft zu warten. »In Wahrheit, siehst du, bin ich genau da, wo ich vor zwei Jahren hätte anfangen müssen«, meinte er, »keinen Schritt weiter! Nur daß wieder zwei Jahre verloren sind – Ich will dich nicht langweilen, Rolf, aber ...« Er sah mein Schlottern. »Rolf«, sagte er,
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