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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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»es wäre gegangen! Ohne Wunder, glaub mir, es wäre gegangen, sie und ich, so wie wir sind – damals nicht! Aber jetzt, ich meine: vor zwei Jahren. Jetzt zum erstenmal, jetzt und hier ...« Stiller wollte nicht weinen, er wehrte sich dagegen und stand auf. »Heute vormittag in der Klinik«, sagte er, »– nein, das ist ja gestern gewesen –« Tränen flossen über sein ganz und gar unweinerliches Gesicht; er wollte etwas sagen. »Es wäre gegangen –«, wiederholte er, kam indessen nicht weiter. »Dann wird es auch gehen«, sagte ich, »dann wird es auch gehen!« In der Folge war es merkwürdig; eine Weile lang taten wir beide, als weinte Stiller gar nicht. Er stand im Zimmer irgendwo, seine Hände in den Hosentaschen, außerstande zu sprechen. Ich sah seinen Rücken, nicht sein Gesicht, wußte, daß Stiller weinte und vor Weinen nichts hörte, und redete über seine ›Hefte‹, nur um nicht ein stummer Zuschauer zu sein. »– jedenfalls weißt du das Entscheidende«, sagte ich unter anderem, »du weißt, daß nichts erledigt ist, wenn einer sich beispielsweise eine Kugel in die Schläfe schießt. Wie man’s erfahren hat, wer kann es beschreiben! Aber du weißt es, so unvorstellbar es ist. Vielleicht hast du eine komische Vorstellung vom Gläubigsein; du meinst vielleicht, man sei sicher, wenn man gläubig ist, sozusagen weise und gerettet und so weiter. Du findest dich alles andere als sicher, so stehst du da und glaubst nicht, daß du gläubig bist. Ist es nicht so? Du kannst dir Gott nicht vorstellen, so redest du dir ein, daß du Ihn nie erfahren hast ...« Stiller schien froh zu sein, daß ich redete. »Soweit ich dein Leben kenne«, sagte ich, »immer wieder hast du alles hingeworfen, weil du unsicher gewesen bist. Du bist nicht die Wahrheit. Du bist ein Mensch und oft bereit gewesen, eine Unwahrheit aufzugeben, unsicher zu sein. Was heißt das anderes, Stiller, als daß du an eine Wahrheit glaubst? Und an eine Wahrheit, die wir nicht ändern und nicht einmal töten können – die das Leben ist.« Die Standuhr draußen in der Diele rasselte wie immer vor dem Stundenschlag; es war drei Uhr. »Mit deinen Heften ging es mir komisch«, sagte ich, um weiterzureden, »immer wieder hast du versucht, dich selbst anzunehmen, ohne so etwas wie Gott anzunehmen. Und nun erweist sich das als Unmöglichkeit.Er ist die Kraft, die dir helfen kann, dich wirklich anzunehmen. Das alles hast du erfahren! Und trotzdem sagst du, daß du nicht beten kannst; du schreibst es auch. Du klammerst dich an deine Ohnmacht, die du für deine Persönlichkeit hältst, und dabei kennst du deine Ohnmacht so genau – und all dies wie aus Trotz, nur weil du nicht die Kraft bist. Ist es nicht so?« Natürlich antwortete Stiller nicht. »Du meinst, es muß dich bezwingen, sonst stimmt es nicht. Du möchtest ja nicht flunkern. Es macht dich stutzig, daß du selber noch darum flehen mußt, glauben zu können; dann hast du einfach Angst, Gott sei deine Erfindung ...« Ich hatte noch lange geredet, schließlich brach ich ab. Ich hatte, wie gesagt, nicht erwartet, daß Stiller mir zuhörte, sondern geredet, nur um vor seinem Weinen nicht ein stummer Zuschauer zu sein. Seine Gedanken waren anderswo. »Ihr Gesicht«, sagte Stiller, »das ist gar nicht ihr Gesicht, Rolf, das ist es nie gewesen –!« Weiter vermochte er sich aber nicht mehr auszudrücken. Stiller weinte nun, wie ich noch selten einen Mann habe weinen sehen. Dabei stand er aufrecht, die Hände in den Hosentaschen. Ich ging nicht aus dem Zimmer; meine Anwesenheit fiel schon nicht mehr ins Gewicht ... In jenen Minuten versuchte ich sehr, mich an ihr Gesicht zu erinnern, sah aber nur jenes Gesicht vom vergangenen Herbst, das keines mehr war, ihr Schluchzen mit dem starren offenen Mund und die zwei kleinen, ebenfalls starren Fäuste in ihrem Schoß, jenes stumme Zittern eines blinden Körpers voll Todesangst; doch daran wollte ich jetzt nicht erinnert sein. Ich beschloß, am andern Morgen ebenfalls in die Klinik zu gehen, um Frau Julika zu sehen, wenn auch nur kurz. »Sag etwas«, bat Stiller, als er endlich, von seinem Weinen erschöpft, meine Anwesenheit wieder bemerkte. »Was ich dir sagen kann, habe ich gesagt: – Julika ist nicht gestorben«, wiederholte ich, »und du liebst sie.« Daraufhin blickte Stiller mich an, als hätte ich eine Offenbarung ausgesprochen. Seine Beine waren noch unsicher, seine Augen wässerig, doch sein Kopf war nüchtern, glaube ich. Er redete nun etwas
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