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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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wenigstens einigermaßen abzustauben, bevor ich sie ihm reichte. Seine Ohren waren krebsrot. Es war merkwürdig; ich folgte ihm wie unter einem Zwang von Anstand. Durchaus wortlos und ohne mich anzufassen, was gar nicht nötig war, führte er mich auf die Wache, wo man mich fünfzig Minuten lang warten ließ.
    »Bitte«, sagte der Kommissär, »nehmen Sie Platz!«
    Der Paß lag auf dem Tisch. Sogleich verwunderte mich der veränderte Ton, eine Art von beflissener und nicht sehr gekonnter Höflichkeit, woraus ich schloß, daß meine amerikanische Staatsbürgerschaft, nach beinahe einstündiger Betrachtung meines Passes, außer Zweifel stand. Der Kommissär, als wollte er die Flegelei des jungen Zöllners wiedergutmachen, bemühte sich sogar um einen Sessel.
    »Sie sprechen Deutsch«, sagte er, »wie ich höre.«
    »Warum nicht?« fragte ich.
    »Bitte«, lächelte er, »nehmen Sie Platz.«
    Ich blieb stehen.
    »Ich bin deutscher Abstammung«, erklärte ich, »Amerikaner deutscher Abstammung –«
    Er wies auf den leeren Sessel.
    »Bitte«, sagte er und zögerte eine Weile, sich selbst zu setzen ... Hätte ich mich im Zug nicht herbeigelassen, Deutsch zu reden, wäre mir möglicherweise alles erspart geblieben! Ein anderer Fahrgast, ein Schweizer, hatte mich angesprochen. Als Augenzeuge meiner Ohrfeige war er auch zugegen, dieser Reisende, der mir seit Paris auf die Nerven ging. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe diesen Herrn nie zuvor gesehen. In Paris kam er ins Abteil, weckte mich, indem er über meine Füße stolperte, und verstaute sein Gepäck, drängte sich mit französischer Entschuldigung ans offene Fenster, um sich in schweizerischer Mundart von einer Dame zu verabschieden; kaum fuhr der Zug, hatte ich das leidige Gefühl, daß er michmusterte. Ich verschanzte mich dann hinter meinen zerlesenen ›New Yorker‹, dessen Witze ich bereits kannte, in der Hoffnung, daß sich die Neugierde meines Reisepartners gelegentlich erschöpfen würde. Auch er las eine Zeitung, eine zürcherische. Nach unsrer französischen Vereinbarung, das Fenster zu schließen, hütete ich mich vor jedem müßigen Blick durchs Fenster hinaus in die Landschaft; so deutlich wartete dieser Herr, der im übrigen ein reizender Mensch sein mochte, auf einen Anlaß zum Gespräch, seinerseits so befangen, daß mir schließlich nichts anderes übrigblieb als das Waggon-Buffet, wo ich fünf Stunden lang saß und einiges trank. Erst zwischen Mulhouse und Basel, von dem nahenden Grenzübergang genötigt, ging ich ins Abteil zurück. Der Schweizer blickte mich wieder an, als müßte er mich kennen. Was ihn plötzlich ermutigte, mich anzusprechen, weiß ich nicht; vielleicht der bloße Umstand, daß wir uns jetzt auf dem Boden seines Landes befanden. Entschuldigen Sie! fragte er etwas befangen: Sind Sie nicht Herr Stiller? Ich hatte, wie gesagt, einigen Whisky getrunken, verstand nicht, hielt meinen amerikanischen Paß in der Hand, während der Schweizer, in seine Mundart verfallend, eine Illustrierte aufblätterte. Hinter uns standen bereits zwei Beamte, ein Zöllner und ein anderer, der einen Stempel in der Hand hielt. Ich gab den Paß. Ich spürte jetzt, daß ich viel getrunken hatte, und wurde mit Mißtrauen betrachtet. Mein Gepäck, klein genug, war in Ordnung. Ist das Ihr Paß? fragte der andere. Erst lachte ich natürlich. Wieso nicht? fragte ich, nachgerade ungehalten: Wieso ist dieser Paß nicht in Ordnung?
    Es war das erste Mal, daß mein Paß in Zweifel gezogen wurde, und all dies nur, weil dieser Herr mich mit einem Bild in seiner Illustrierten verwechselte ...
    »Herr Doktor«, sagte der Kommissär zu eben diesem Herrn, »ich will Sie nicht länger aufhalten, jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Auskünfte.«
    In der Türe, während der dankbare Kommissär die Klinke hielt, nickte er, dieser Herr, als würden wir uns kennen. Es war ein Herr Doktor, wie es sie zu Tausenden gibt. Ich hatte nicht das mindeste Bedürfnis zu nicken. Dann kam der Kommissär zurück, wies abermals auf den Sessel:
    »Bitte«, sagte er, »wie ich sehe, Herr Stiller, sind Sie in einem ziemlich betrunkenen Zustand –«
    »Stiller?« sagte ich, »ich heiße nicht Stiller!«
    »– ich hoffe«, fuhr er unbekümmert fort, »Sie verstehen trotzdem, was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Stiller.«
    Ich schüttelte den Kopf, und dazu bot er Rauchwaren an, sogenannte Stumpen. Selbstverständlich lehnte ich ab, da er sie offenkundig nicht mir, sondern einem gewissen Herrn
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