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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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weiß!«
    »Tänzerin.«
    »Ich weiß!«
    »Ein bildschöne Frau.«
    »Und ihr Lungenleiden?« frage ich teilnahmsvoll.
    »Geheilt.«
    »Wer sagt das?«
    »Sie selbst.«
    »Und – woher wissen Sie das alles?«
    »Woher!« sagt auch mein Wärter, »– aus der Illustrierten.«
    Viel mehr ist nicht zu erfahren.
    »Essen Sie!« sagt mein Wärter, »essen Sie die Suppe, solange sie heiß ist, und verlieren Sie nicht die Nerven, Mister White. Darauf warten sie ja bloß, diese Herren Doktoren, ich kenne das!«
    Die Suppe, eine Minestra, ist ordentlich, überhaupt ist gegen die Verpflegung nicht viel einzuwenden, und mein Wärter, glaube ich, meinte es gut mit mir, jedenfalls redet er mich nie (wie alle andern!) als Herr Stiller an, sondern als Mister White.
     
    Erzählen soll ich! Und zwar die Wahrheit meines Lebens, nichts als die schlichte und pure Wahrheit! Ein Block weißen Papiers, eine Füllfeder mit Tinte, die ich auf Staatskosten jederzeit nachfüllen lassen kann, und dazu ein bißchen guten Willen: – was soll der Wahrheit schon übrigbleiben, wenn ich ihr mit meiner Feder komme! Und wenn ich mich bloß anständig an die Tatsachen halte, meint mein Verteidiger, haben wir ja die Wahrheit schon im Gehege, sozusagen mit Händen zu greifen. Wo sollte die Wahrheit, wenn ich sie niederschreibe, denn hin? Und unter Tatsachen, glaube ich, versteht mein Verteidiger insbesondere Ortsnamen, Daten, die man nachprüfen kann, beispielsweise Angaben über Beruf oder sonstiges Einkommen, Dauer von Aufenthalten, Anzahl der Kinder, Anzahl der Scheidungen, Konfession usw.
     
    PS.
    Wo war ich am 18. 1. 1946?
     
     
    Spazieren im Gefängnishof:
    Es ist lange nicht so schlimm, nicht so erniedrigend, wie man erwartet, und in der Tat bin ich froh, wieder einmal gehen zu können, wenn auch nur im Kreise herum. Der Hof ist ziemlich groß; Pflästerung mit Moos dazwischen, ein schöner Ahorn in der Mitte, Efeu an einer Hauswand, und viel macht es natürlich aus, daß wir noch keine Sträflingskleider tragen, sondern Zivil, gerade so, wie man verhaftet worden ist. Wenn man den Kreis, den wir zu spazieren haben, etwas ausweitet, sieht man eine Zinne mit flatternder Wäsche; sonst nur Himmel über den Dächern ringsum, die voll gurrender Tauben sind. Leider müssen wir in Einerkolonne bleiben, so daß wirkliche Gespräche unmöglich sind. Vor mir geht ein Dicker mit glänzender Glatze (wie ich) und mit fetten Falten am Nacken, mit rudernden Armen, wenn er gehen muß, vermutlich ein Neuling; halb verstockt und halb verdattert, wenn ein freundlicher Wärter ihn spazieren heißt, blickt er sich um, was ihm leibliche Mühe macht, und sucht Unterstützung mit stummen Blicken. Unterstützung wogegen? Hinter mir geht der Italiener, der beim Duschen so gerne singt, und die Wärter können nicht umhin zu lachen; er macht Theater, indem er mich nachahmt. Einmal blicke ich zurück, um mein Konterfei kennenzulernen; es ist lächerlich genug: Hände auf dem Rücken, Pose des Denkers, infolge Zerstreutheit immer etwas aus der Reihe, Fernweh-Miene mit einsamen Blicken über die nächste Backsteinmauer, einer, der sich auf scheue Weise einbildet, daß er nicht hierher gehört, dazu die linkische Leutseligkeit eines Intellektuellen. Es wird schon stimmen, dieses Konterfei, jedenfalls muß sogar der Jude lachen, der einzige Intellektuelle unter den Häftlingen, der leider auf der anderen Kreishälfte spaziert, so daß wir uns nur durch Mienen und Gesten etwas unterhalten können. Er scheint sehr hoffnungslos in Hinsicht auf schweizerische Gerechtigkeit ... Plötzlich, irgendeiner hat angefangen, spielen sie Fußball mit einer rohen Kartoffel; es kommt zu einigen flotten Kombinationen, bis unser Oberwärter, ein sehr korrekter Mann, der aufs persönlichste beleidigt ist, wann immer sich etwas Unkorrektes ereignet, die Kartoffel endlich erwischt. Alle Mann halt! Ernste Frage: woher die Kartoffel? Wir schweigen im Kreis, grinsen. Der Oberwärter, die geschundeneKartoffel in der Hand, schreitet von Mann zu Mann, Aug in Auge. Jeder zuckt die Achsel. Der Oberwärter hat den Augenblick versäumt, die Kartoffel einfach wegzuwerfen; gegen seinen Wunsch ist die Sache plötzlich wichtig geworden, grundsätzlich. Ich habe das Gefühl, alles sei Farce, und der Oberwärter habe Mühe, nicht selbst zu lachen und uns alle zu entlassen; zugleich das Gefühl: vielleicht haben sie doch eine Folter bereit, und die gestohlene Kartoffel genügt, damit sie mit glühenden Eisen
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