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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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nicht mehr. »Warum habe ich diese Frau nie gefunden? Nie! Nicht einen Tag lang, Rolf, nicht eine Stunde lang in dieser ganzen Zeit. Nie! Was ist das?« fragte er, »sag’s mir.« – »Was hast du erwartet?« – »Erwartet?« fragte er zurück. »Ja«, wiederholte ich, »was hast du erwartet, Stiller, vor zwei Jahren meine ich, als ihr hierher gekommen seid. Um miteinander zu leben. Ich frage dich, denn ich weiß es nicht. Eine Verwandlung hast du erwartet, scheint es, von ihr.« – »Auch von mir.« – »Nimm es nicht übel«, sagte ich beim Anzünden im Kamin, »aber so etwas erinnert mich immer an Romane. Verwandlung? Ein Mensch begreift, daß er sich an einem andern versündigt hat und übrigens auch an sich selbst, und eines späten Tages ist man bereit, alles wiedergutzumachen – unter der Voraussetzung, daß der Mensch sich verwandelt ... Eine solche Erwartung, mein Lieber, ist die nicht etwas billig?« – »Wie alles an mir«, hörte ich ihn sagen; darauf ging ich nicht ein, sondern fragte: »Oder was hast du wirklich erwartet?« Stiller schien sich zu besinnen, ich mußte mich um das Feuer kümmern. »Alles – bloß nicht das Menschenmögliche«, antwortete ich schließlich selber: »Auch in deinen Briefen kommt es mir zuweilen vor, als redest du gar nicht von Liebe, sondern von Zärtlichkeit, von – nun ja, von Eros in irgendeiner Form. Ein Mann in unseren Jahren braucht das,Stiller, und ich finde es wundervoll, wenn’s da ist ... Nur«, setzte ich hinzu, »darum geht es hier wohl nicht.« Es knisterte jetzt munter, und Stiller überließ es mir zu reden, mehr als mir lieb war. Doch hatte ich nun einmal angefangen. »Es geht nicht, hast du gesagt, und das verwundert dich wirklich? Nach einer Erfahrung von so vielen Jahren? Und dann sagst du, du hast es versucht. Was? Manchmal könnte man fast meinen, du hältst dich für einen Zauberer, der diese Frau Julika in ihr Gegenteil verzaubern kann. Und dabei, scheint mir, geht es doch einzig und allein darum – Es ist schwer zu sagen! Julika ist dein Leben geworden, Stiller, das ist nun einmal so. Warum bist du von deinem Mexiko zurückgekehrt? Eben weil du so etwas erfahren hast. Ihr seid ein Paar ... Auferwecken! Dein alter lieber Unsinn, Stiller, du gestattest, daß ich es dir sage: dein mörderischer Hochmut – Du als Erlöser eurer selbst!« Stiller schwieg. »In einem Punkt«, sagte ich nach einigem Warten, »darin verstehe ich dich vielleicht nur zu gut. Man ergibt sich, man kehrt zurück, um sich zu ergeben, aber man ergibt sich nie ein für allemal. Dann, wer weiß, wäre es auch nur eine schlappe Resignation, nichts weiter, ein Sichabfinden, das Ergebnis davon irgendeine Art von Spießigkeit ... Du zitterst, hast du gesagt. Zittere! Du weißt schon, wie ich das meine. Du zitterst, weil immer wieder, immer wieder diese gleiche Ergebung von dir verlangt wird – Stiller?« rief ich ihn, »was denkst du?« Stiller stand; ich saß auf dem Hocker, meine bloßen Füße gegen das wärmende Feuer gestreckt; er schwieg. »Du bildest dir doch nicht ein«, sagte ich, »daß man mit einer andern, vielleicht offeneren Frau, mit Sibylle etwa, an alledem vorbeikommt, was man in sich selbst hat. Oder bildest du dir das ein?« Indem ich mich umdrehte, sah ich sein Gesicht nur von unten; er blickte über mich hinweg in den Kamin. »Du läßt mich da lauter Zeug reden«, brach ich ab, »was du selber weißt.« Stiller schlief nicht, er stand ja, die Hände in den Hosentaschen, und seine Augen waren offen, wach, aber leer, reglos. »Stiller«, sagte ich, »du liebst sie!« Er schien überhaupt nichts zu hören. »Sag mir«, bat ich, »wenn du allein sein möchtest.« In der Wärme der strahlenden Glut spürte ich plötzlich wieder meine Müdigkeit und mußte ein Gähnen unterdrücken. »Wie spät ist es denn?« erkundigte sich Stiller. Es ging gegen zwei Uhr. »– Sie hat gewartet!« sagte er. »Sie hat gewartet, siehst du, und ich habe nicht gewartet. Auf sie! Von unserm ersten Spaziergang an. Auf sie: auf irgendein Zeichen, auf Ausdruck, auf Hilfe, auf Freunde, auf alles, auf ein einziges Zeichen in all diesen Jahren! Ich habe sie gedemütigt, siehst du, und sie mich nicht! ...Ist das so?« fragte er. »Wer behauptet das!« fragte ich zurück. Jetzt sah er mich mit einem bohrendem Blick an. »Rolf«, erklärte er, »sie will sterben!« Er nickte nur: »So ist das!« Er war taub für alles, was ich nun fünf oder zehn Minuten lang vorbrachte an Widerspruch;
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