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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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er, »als ich dachte, sie stirbt – gestern mittag ...« Ich wartete vergeblich; er brachte seinen Satz nicht fertig. Stiller hatte nicht mehr mit einem Gesprächspartner gerechnet, jetzt hinderte ihn das Bewußtsein, daß seine Zunge lallte. »Zu spät«, sagte er kurz. »Was«, wollte ich wissen, »was ist zu spät?«Ich begann zu frieren. »Alles«, antwortete er endlich, »zwei Jahre, mein Lieber, zwei Jahre! Ich hab’s versucht, Herrgott im Himmel, ich habe –« Wein stieß ihm auf. »Entschuldigung«, murmelte er und war verstummt. Vielleicht war er weniger betrunken, als ich zuerst gemeint hatte. Er hatte reden wollen, ich half ihm ins Gedächtnis: »Du hast versucht –?« Nun mußte er sich doch wieder setzen. »Ist ja egal«, sagte er. Ich hatte Stiller noch nie in solcher Verfassung gesehen, und er erbarmte mich in seiner Peinlichkeit, Übelkeit, Lächerlichkeit. Dabei wußte ich nicht, was tun. Meine Vernünftigkeit kam mir selber sehr schal vor. »Wird sie sterben?« fragte er wie zum erstenmal, den Kopf in seine Hände gestützt; es schien ihm schwindlig zu sein. »Du selber hast doch mit dem Arzt gesprochen«, antwortete ich, »was hat dir der Arzt denn gesagt? Genau?« Sogar im Sitzen wankte er, ohne es zu merken, und auch daß er die Streichhölzchen jedesmal verkehrt in die Finger nahm, merkte er nicht, schließlich gab er’s auf, eine feuerlose, schon ganz verkrümmte und verquetschte Zigarette im Mund. »Es ist nie zu spät«, sagte ich, fand es selbst eine arge Redensart und verlor darüber den Gedanken, den ich eigentlich hatte ausdrücken wollen. »Nie zu spät!« sagte er mit einem matten Lachen. »Einfach von vorne beginnen: Und wenn’s einfach nicht geht, nicht geht, nicht geht: weil es zu spät ist?!« Mit einem Schlag schien Stiller viel wacher zu sein. »Rolf«, sagte er trotz seiner lalligen Stimme ganz klar, ganz bestimmt, »– ich kann einen Menschen töten, aber ich kann ihn nicht wieder auferwecken ...« Und damit, so dünkte ihm offenbar, war alles gesagt. Er griff neuerdings zur Flasche, die aber, zum Glück, leer war und noch ein paar Tropfen hergab. »Was«, erkundigte ich mich, »was geht nicht?« Er schüttelte bloß den Kopf. »Liebst du sie denn?« fragte ich. »Willst du denn –« Er schüttelte den Kopf, ohne mich gehört zu haben. »Kann von mir nichts mehr annehmen«, sagte er, »kann von mir nichts mehr annehmen! Sie sagt es ja selbst. Und dann stehst du da: Laß mich. Ehrlich wie sie ist. Ich weiß nicht, Rolf, was nicht geht. Frag nie. Ich habe diesen Menschen kaputt gemacht ...« Seine Finger drehten die mürbe Zigarette und zitterten, aber wenigstens war er ins Sprechen gekommen. »Ich mache sie wahnsinnig. Ich weiß. Ich erwarte immer etwas. Wunder! Und dann fange ich an zu zittern, wenn ich sie bloß sehe. Mein Fehler, kann sein. Wahrscheinlich. Nicht so viel hat dieser Mensch sich verändert, nicht so viel! Hat gar kein Bedürfnis. Laß mich! sagt sie, und dann stehst du da. Ich begreife sie nicht. Das ist alles. Ich finde sie nicht. Dann hasse ich. Ganz einfach: ich krepiere, wenn ich nichtlieben kann, und sie –« Er zerzupfte seine Zigarette. »Woher weißt du denn, Stiller, daß nicht auch sie –« Er schüttelte den Kopf. »Stiller«, sagte ich, »du bist selbstgerecht.« – » Und sie nicht?!« – »Ihre Selbstgerechtigkeit«, meinte ich, »ist ihre Sache.« Er schwieg. »Was verstehst du unter Liebe?« fragte ich, aber unterdessen hatte Stiller doch eine andere Flasche entdeckt, die sein Glas, in der Tat, beinahe noch füllte. »Laß doch diese Trinkerei!« bat ich. Er trank. »Das ist doch Unsinn«, sagte er, »du schlotterst ja, Rolf, du bist ja barfuß ... Was ich unter Liebe verstehe?« besann er sich, versuchte das leere Glas nochmals zu leeren: »Ich kann nicht allein lieben, Rolf, ich bin kein Heiliger ...« Es wurde nun wirklich zu kalt; vergeblich hatte ich mich nach irgendeiner Decke umgesehen, nun kauerte ich, nahm rasch eine Zeitung vom Tischlein, knüllte sie in den Kamin. Ein paar Tannenscheite lagen auch noch da, sogar ein großer Buchenklotz. Für eine Weile war ich beschäftigt ... »Was soll ich denn tun!« hörte ich Stiller plötzlich hinter meinem Rücken, »was soll ich denn tun? Was?« Er war wieder aufgestanden, und ich sah gerade noch, wie er mit beiden Fäusten gegen seine Stirne trommelte. Er war kreideweiß, unsicher auf den Beinen nach wie vor; aber der Alkohol, schien es, begann sein Hirn zu verlassen. Er lallte
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