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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Die Flugzeuge.
    Mit zitternden Händen versucht sie, das Schwarzpapier dort zu befestigen, wo es sich am Fenster gelöst hat. Das Sirenengeheul kündigt sie an, die zehnten Reiter der Apokalypse. Noch ist es mehr zu ahnen, das dunkle Dröhnen, doch es kommt näher. Vielleicht Richtung Neukölln. Vielleicht wird es auch Spandau treffen. Oder Köpenick. Vielleicht aber auch den Grunewald dieses Mal, diese Straße und dieses Haus. Wo Olga jetzt sein mag? Nicht nachdenken. Bloß nicht nachdenken. Vielleicht hilft Wachs.
    Sie löscht die Kerze und taucht den Finger in die heiße Flüssigkeit. Damit bestreicht sie den Holzrahmen und versucht erneut, das Fenster korrekt zu verdunkeln. Der Sirenenton jagt den Schrecken in den Körper, der nur noch einen Impuls kennt: fliehen, sich verkriechen, Schutz suchen. Beten.
    Vor dir sind tausend Jahre wie ein Tag. Lehre uns, Herr, unsere Tage zu zählen. Du warst unsere Zuflucht, von Geschlecht zu Geschlecht.
    »Paula?«
    Die Tür zu dem kleinen Kabuff über dem Ofen wird aufgerissen. Im Licht einer Kerze erscheinen die angsterstarrten Züge eines Kindes.
    »Paula!«
    Flink klettert der Junge in den engen Raum, der sogar für ihn zu niedrig zum Stehen ist.
    »Du sollst schlafen.«
    Sie lächelt, als sie sein Gesicht unter den verstrubbelten Haaren
sieht. Er stellt die Kerze ab und kriecht neben sie. »Was machst du da?«
    »Ich stricke.«
    Er deutet auf die vielen Päckchen mit Verbandmull. Eines ist geöffnet, sie hat gerade den weißen Strang zu einem Ärmel verarbeitet, als der Alarm begann.
    »Das ist verboten. Ich muss das melden.«
    Sie lacht und fährt ihm mit der Hand durch die Haare. Vor zwei Jahren, als sie in dieses Haus gekommen war, wäre ihr bei diesen Worten himmelangst geworden. Das war die Zeit, in der er sie kaum angesehen hatte und die einzigen Worte, die er an sie richtete, Befehle waren. Ihm fehlt der Vater. Die Mutter hat keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Sie ist oft außer Haus. Manchmal bringt sie die Männer auch mit, dann versucht sie, den Jungen abzulenken.
    Der Junge hatte sie dafür gehasst, weil sie wusste, was seine Mutter tat. Er hatte sie gehasst, bis er das Fieber bekommen hatte und ihm nichts mehr helfen konnte. Nur noch nasse Umschläge und eine kühle Hand auf der Stirn. Ihre Hand, nicht die der Mutter. Als die Krise kam, hatte sie sich zu ihm gelegt und ihn festgehalten.
    Er war nicht gegangen. Seitdem ist er ihr Sohn. Jetzt ist sie vierzehn und er elf, und die tausend Tage sind wie ein dunkler Tag. Herr, wann geht er vorüber?
    »Der letzte Winter war kalt.«
    Sie schiebt seinen Pyjamaärmel hoch und probiert die Länge an. »Du sollst nicht frieren dieses Mal.«
    »Sie kommen«, sagt er.
    Beide blicken auf das verdunkelte Fenster. Sie legt das Strickzeug zur Seite und zieht ihn an sich. Augenblicklich schmiegt er sich an ihre Schulter. Er tut es nur, wenn die Flieger kommen. Wenn es dunkel und die Mutter nicht zu Hause ist. Er ist kein zärtliches Kind. Manchmal kneift er sie, oder er boxt sie leicht. Das ist seine Art zu zeigen, dass er sie mag.

    »Der Mai ist schon fast vorbei«, sagt er.
    Sie nickt. Sie weiß, was die Leute flüsterten. Sie hat gute Ohren. Keiner zeigt seine Angst, aber ernst sind sie geworden, die Deutschen. Die Invasion muss direkt bevorstehen.
    Sie weiß nicht genau, was das ist, die Invasion. Es muss der Auslöser für die längst überfällige Vergeltung sein, mit der man den Feind bestrafen will. Der Luftterror wird mit jedem Tag schlimmer. Die Verdunkelungen machen die Menschen nervös und trübsinnig. Der Junge erzählt flüsternd von Luftüberlegenheit, als ob er wüsste, wie frevlerisch allein schon das Denken dieses Wortes ist. Mit der Invasion soll alles anders werden. So wie ein Gewitter erst unangenehm ist und dann die Luft reinigt. Wir werden sie hereinlassen, sagt der Junge, sie werden sich sicher fühlen, und dann werden wir sie vernichten.
    Der Sirenenton mahnt durchdringend und unmissverständlich. Sie versteht nicht, warum nicht wenigstens der Junge in den Keller darf. Warum die Freifrau es einen Tag lang gestattet und den anderen Tag verbietet. Der Sirenenton ist anders heute. Sie weiß nicht, ob es nur das Blut ist, das in ihren Ohren rauscht, oder der Wind in den Bäumen im Garten oder ob die Flugzeuge tatsächlich wiederkommen.
    Lass sie woanders hinfliegen, Herr. Wir vergehen durch deinen Zorn, werden vernichtet durch deinen Grimm, und wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer. Sende das Feuer
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