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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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überall gleich, wenn das Grauen kommt.
    Sie zieht ihn hoch und packt ihn an den Schultern.
    »Du musst.«
    Sie läuft durch das Erdgeschoss hin zu dem kleinen Raum neben der Eingangstür, in dem die Besen, Putzeimer und Gartengeräte stehen. Mit einer Axt kommt sie wieder. Sie schiebt den Jungen zur Seite und holt aus.
    Um sie herum geht die Welt unter. Die Kampfverbände fliegen Richtung Norden, vermutlich werden sie dieses Mal Moabit und den Wedding heimsuchen. Was hier herunterkommt, sind nur die Vorboten. Nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was den Menschen dort noch bevorsteht. Hoch im Himmel beginnt wieder das Heulen. Sie schlägt zu, noch einmal und noch einmal, dann tritt sie gegen die Tür, die sich mit einem Mal nach innen öffnet. Das Heulen pfeift und singt in ihren Ohren, sie reißt den Jungen hinter sich, beide fallen die Treppe hinunter, und in diesem Moment schlägt es ein.
    Sie wirft sich über ihn und wartet. Er liegt unter ihr, sie erstickt ihn fast, er keucht vor Angst und Atemnot, doch sie bleibt auf ihm liegen und wartet.
    Nichts geschieht. Das Dröhnen lässt nach, sie fliegen weiter. Gott sei den armen Seelen gnädig.
    Sie öffnet die Augen.
    Langsam steht sie auf und klopft sich den Staub aus dem Nachthemd. Hustend richtet sich der Junge auf. Beide starren durch das Kellerfenster in den Garten. Oder in das, was von ihm übrig geblieben ist.

    Die Bombe liegt in den Kartoffeln. Ein 50-Tonnen-Ungeheuer. Dunkel, rauchend, und in seinem runden Bauch lauert der Tod.
    Wie lange sie so stehen, weiß sie nicht. Sie kann den Blick nicht von dem Monster abwenden, gleichzeitig hat sie Angst, es zu provozieren. Sie spürt mit einem Mal die Ungeheuerlichkeit dieser Gnade, dass sie die Bombe sehen können und nicht sterben.
    Der Junge klettert auf den Waschtisch und sieht hinaus. »Das ist ja ein Ding! Der Zünder funktioniert nicht.«
    Sie geht zum Ofen und holt mit zitternden Fingern die Streichhölzer herunter, die immer neben dem Holz liegen. Dann zündet sie eine Kerze an und sieht sich um.
    Heute war der Keller verschlossen. Nur die Freifrau weiß, warum. Einmal, als sie nicht schlafen konnte, hat sie einen Wagen mit laufendem Motor gehört. Sie war zum Fenster geschlichen und hatte vorsichtig durch die Vorhänge gespäht. Es war niemand zu sehen gewesen. Doch dann war eine Gestalt aus dem Haus gekommen, und sie war hastig zurückgetreten.
    »Die Tommys«, sagt der Junge und schüttelt den Kopf. Dann springt er herunter und stellt sich neben sie. »Was ist das?«, fragt er.
    Mehrere Kisten und zwei große, mit Decken verhüllte Gegenstände stehen in der Ecke vor den Regalen mit der Marmelade und den eingekochten Früchten.
    Er nimmt die Kerze und geht darauf zu.
    »Lass das«, sagt sie. »Das darfst du nicht.«
    Doch er hat schon eine der Decken zurückgeschlagen. »Oh.« Er klingt enttäuscht. »Nur ein Bild.«
    Er bedeckt es wieder. Dann setzen sich beide auf den Boden und warten auf die erlösende Entwarnung. Als es endlich so weit ist, schleichen sie schweigend nach oben.
    Vor seinem Zimmer legt sie noch einmal den Arm um seine Schulter. Mehr wagt sie jetzt nicht mehr.

    Er senkt den Kopf und stößt mit der Stirn sanft an ihren Bauch. »Wären wir tot, wenn die Bombe explodiert wäre?«
    Sie greift ihm unters Kinn, hebt sein Gesicht zu sich hoch und leuchtet ihn mit der Kerze an. »Nein«, sagt sie. »Die Kellermauern sind viel zu dick.«
    Er nickt, als ob er ihr glauben würde.

1
    Ich kam immer zu spät zu Beerdigungen.
    Die Trauergäste verließen gerade die Kapelle des Dahlemer Waldfriedhofes. Sigrun erschien als eine der Letzten und warf einen suchenden Blick Richtung Ausgang. Ich trat ein paar Schritte vor, sie entdeckte mich und winkte mich unauffällig heran.
    »Das war nicht nett von dir.« Ärgerlich zog sie mich in die Kapelle. Vorne am Sarg stand die Familie des Verstorbenen. Schwerer Lilienduft mischte sich mit dem Geruch brennender Kerzen.
    »Ich kannte ihn doch kaum«, flüsterte ich.
    »Ich auch nicht«, gab sie zurück. »Aber er war der letzte Freund meiner Großmutter.«
    Sie schob mich zur Seite, denn einer der Sargträger hatte sich aus dem Halbschatten gelöst und nahm ein großes Kissen hoch. Gemessenen Schrittes trug er es an uns vorbei. Auf dem Samt glitzerte es in allen Farben.
    »Seine Orden«, wisperte Sigrun. »Sie haben sogar die Ehrennadel fürs Blutspenden draufgesteckt.«
    Sie, das waren die Lehnsfelds, die heute den Patriarchen der Familie zu Grabe trugen:
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