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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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durch mich. Damals. Und eines Tages kann man die Liebe nicht mehr glauben ... Ich komme zu spät!« Stiller hatte sich erhoben. Er sah aus, als fiele er jeden Augenblick um, und was ihn überhaupt noch hielt, wußte ich nicht. »Nimm einen Marc!« sagte er, »und dann gehenwir schlafen.« Er fand aber die Gläslein nicht, die ich auf einem unteren Tablett sah, und schien sein Vorhaben zu vergessen. Er stand einfach da, die Marc-Flasche in der Hand, in Gedanken verstummt. »Ich habe keinen fremderen Menschen als diese Frau!« sagte er. »Ich will dich nicht langweilen, Rolf, nur – das sagt sich so: Ich werde dankbar sein, ich werde auf kein Wunder warten, auf keine andere Julika, sondern dankbar sein für jeden Tag, wenn sie noch einmal in dieses Haus kommt – jetzt, ja, jetzt wo sie in der Klinik liegt, wo ich nicht schlafen kann, nicht wachen kann vor Angst, daß alles zu spät ist, jetzt – Rolf!« sagte er, mußte sich aber vor Schwäche auf den nahen Fenstersims setzen, um weitersprechen zu können; er sprach wie ein banges Kind nach einem argen Traum: »Und wenn sie wieder dort sitzt? Sie dort, ich hier? Und wenn es wieder ist wie immer? Genau so? Sie dort, ich hier –« Er saß, die Marc-Flasche noch immer in der Hand, und sah sich das Zimmer an, die zwei leeren Sessel. »Was dann?« fragte er sich selbst und kurz darauf mich, »was dann, mein Lieber, was dann? Soll ich mich in Rauch auflösen, damit ich ihr keine Last bin? Oder wie? Soll ich fasten, bis sie ein Zeichen gibt, und ihr zeigen, daß einer dabei verhungern kann? Oder was?« – »Stiller«, antwortete ich, »es wird nicht sein, wie es gewesen ist. Es wird für dich nicht das gleiche sein, auch wenn Julika sich nie verändert. Gestern mittag hast du geglaubt, sie stirbt –« Sobald er merkte, wohin meine Rede ihn führen könnte, unterbrach er. »Ich weiß«, sagte er, »was du meinst.« Er zeigte seine Übelkeit, damit ich nicht weiterredete, und ich schwieg. »Was habe ich an Einsichten und Entschlüssen schon gehabt!« sagte er, »und wenn sie wieder hier sitzt, was dann? Ich kenne mich doch langsam. Ich bin schwach.« – »Wenn du weißt, daß du schwach bist«, meinte ich, »das ist schon viel. Vielleicht weißt du’s zum erstenmal. Seit gestern mittag, als du gedacht hast, sie stirbt. Manchmal hassest du sie, sagst du. Weil auch sie schwach und arm ist? Sie kann dir nicht geben, was du brauchst. Sicher. Und ihre Liebe wäre so notwendig für dich. Wie keine andere. Es gibt Dinge, die sehr notwendig wären, Stiller, und wir vermögen sie trotzdem nicht. Warum soll Julika es vermögen? Vergötterst du sie – noch immer – oder liebst du sie?« Stiller ließ mich reden. »Jaja«, sagte er, »aber praktisch gesprochen, sie dort, ich hier, was soll ich tun? Ganz praktisch!« Er blickte mich an. »Siehst du, Rolf, da weißt auch du keine Antwort!« sagte er, und es schien ihn zu befriedigen. »Du bist sehr weit«, sagte ich, »oft habe ich den Eindruck, es fehlt dir nur noch ein einziger Schritt.« – »Und wir sitzen hiermitten in einer Hochzeit, meinst du?« – »Und du erwartest nicht mehr, meine ich, daß Julika dich von deinem Leben lossprechen kann oder umgekehrt. Was das im Praktischen heißt, weißt du.« – »Nein.« – »Es gibt keine Änderung«, sagte ich, »ihr lebt miteinander, du mit deiner Arbeit da unten im Souterrain, sie mit ihrer halben Lunge, so Gott will, und der einzige Unterschied: ihr foltert euch nicht mehr Tag für Tag mit dieser irren Erwartung, daß wir einen Menschen verwandeln können, einen anderen oder uns selbst, mit dieser hochmütigen Hoffnungslosigkeit ... Ganz praktisch: Ihr lernt beten für einander.« Stiller hatte sich erhoben. »Ja«, schloß ich, »das ist eigentlich alles, was ich dir in dieser Sache zu sagen weiß.« Stiller hatte die Marc-Flasche auf den kleinen Tisch gestellt, und wir blickten einander an; sein vages Lächeln von vorher stellte sich nicht ein. »Beten will gekonnt sein!« sagte er bloß, und dann folgte ein längeres Schweigen ...
    Später, nach Jahr und Tag, habe ich mir öfter überlegt, wie ich mich in jener Nacht hätte verhalten sollen, unversehens vor eine Aufgabe gestellt, die über die Möglichkeiten einer Freundschaft hinausging. Als Stiller den Raum verließ, um sich endlich zu erleichtern, stand ich ratlos. Ich fühlte meine Amtslosigkeit, denn was ich auch hätte sagen können, immer blieb es doch nur meine persönliche Ansicht. Bestenfalls gelang mir nicht
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