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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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kennenzulernen ...«
    Pause.
    »Sie rauchen wirklich nicht?« fragt er.
    »Nur Zigarren.«
    »Meine Frau läßt Sie grüßen«, sagt er, indem er sich auf die Pritsche setzt wie ein alter Besuch, einen Aschenbecher sucht, bloß um mich nicht anzusehen, glaube ich, »– vorausgesetzt, daß Sie tatsächlich Herr Stiller sind!«
    »Mein Name ist White!« sage ich.
    »Ich will der Untersuchung keineswegs vorgreifen«, sagt er mit einem Unterton von Entschuldigung oder Erleichterung, raucht und weiß offensichtlich nicht sofort, was er unter diesen Umständen weiter sagen soll, erst nach einigen Minuten, nach einem plötzlich ganz unpersönlichen und von seiner Geistesabwesenheit verdünnten Geplauder über den heutigen Straßenlärm, insbesondere über Motorroller, und über das Faktum, daß Whisky, überhaupt Alkohol, in der Untersuchungshaft ›leider‹ strengstens verboten ist, erklärt er übergangslos: »– Was mich betrifft, habe ich Stiller nie gesehen. Mindestens nicht mit Bewußtsein. Einmal kam es zu einem Gespräch am Telefon, wie Sie vielleicht wissen, es war ein Anruf aus Paris, doch kann ich nicht wissen, ob Sie das gewesen sind.«
    Dann wechselt sein Ton; plötzlich wird er gemütlich:
    »Sie haben Ihre Gattin ermordet, Mister White?«
    Auch er, habe ich das Gefühl, glaubt mir nicht. Er lächelt, verliert abersein Lächeln, da wir uns wortlos anblicken, und erkundigt sich, wieso ich meine Gattin ermordet habe.
    »Weil ich sie liebte«, sage ich.
    »Ist das ein Grund?«
    »Sehen Sie«, erkläre ich ihm, »es war ein Opfer für sie, an meiner Seite zu leben. Das fanden auch alle meine Bekannten, ganz zu schweigen von ihren Bekannten. Sie selbst sagte ja kaum ein Wort, wie sie unter mir zu leiden hatte. Sie war ein sehr nobler Mensch, wissen Sie, und da könnten Sie fragen, wen Sie wollen, Herr Staatsanwalt, das fanden alle. Einen so noblen, sagten alle, einen so feinen Menschen wie meine Gattin hätten sie noch nie gesehen. Und dabei verkehrten wir fast nur in gebildeten Kreisen. Übrigens fand ich es selber, ich bewunderte sie, wissen Sie. Das Noble zog mich an. Das war ihr Unglück. Ich kann Ihnen nicht erzählen, wie oft mir diese Frau verziehen, wie oft!«
    »Was?«
    »Daß ich so bin, wie ich bin.«
    Hin und wieder stellt er Fragen; zum Beispiel:
    »Haben Sie oft gestritten?«
    »Nie.«
    »Auch vor dem Mord nicht?«
    »Schon gar nicht«, sage ich, »sonst wäre es ja nicht dazu gekommen. Sie können sich offenbar meine Ermordete nicht vorstellen, Herr Staatsanwalt. Jedes laute Wort war ihr so ferne, daß ich mich auch nicht getraute. Ich sage Ihnen doch, sie war ein so nobler Mensch, daß alle unsere Bekannten nie zuvor einen so noblen Menschen getroffen hatten. Und mit einem so noblen Menschen verheiratet zu sein, Herr Staatsanwalt, können Sie sich das vorstellen? Ich war neun Jahre lang verschwitzt, sehen Sie, vor schlechtem Gewissen. Und wenn ich es einmal pro Woche nicht aushielt, mein schlechtes Gewissen, und beispielsweise einen Teller an die Wand schmetterte, kam ich mir angesichts meiner Frau wie ein Mörder vor – ihr Mörder, jawohl, so schwer hatte es diese zarte Frau mit mir!«
    »Hm«, sagt er.
    »Es ist nicht zum Lächeln«, sage ich, »es hat mich Jahre meines Lebens gekostet, bis ich einsah, daß ich ihr Mörder bin, und endlich die Konsequenzen zog.«
    »Hm«, sagt er.
    »Ich leugne nichts«, sage ich, »aber warten Sie auch nicht auf meinschlechtes Gewissen, Herr Staatsanwalt, ich habe keines mehr. Irgendwie ist es einfach verbraucht. Ich hatte so viel schlechtes Gewissen, solange sie lebte. Es war furchtbar für sie, einfach furchtbar, an meiner Seite leben zu müssen.«
    »Und drum haben Sie sie – ermordet?«
    Ich nicke.
    »Verstehe«, sagt er.
    »Man hält das nicht aus«, sage ich, »man kann nicht jahrelang ein schlechtes Gewissen haben, Herr Staatsanwalt, ohne zu verstehen, warum man ein schlechtes Gewissen hat!«
    Usw.
    Ich weiß nicht, ob er mich versteht.
     
     
    Einmal in der Woche, jeden Freitag, können wir duschen, je zehn Minuten, je zehn Häftlinge zusammen. Sonst sehe ich ja meine Nachbarn nie, dann aber splitternackt und unter dampfigem Gerausch, so daß man kaum zusammen sprechen kann. Einer, der sich unschuldig findet, seift sich aus Trotz nicht ein. Ein kleiner Italiener singt jedesmal. Physiognomien unter der Dusche, von Strähnen nassen Haares und Seifenschaum entstellt, sind kaum zu lesen; hinzu kommt die Nacktheit des ganzen Körpers, und gewohnt, das
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